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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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Küche, zu einer Familie. Als ich Studentin in Leipzig war, bin ich an dunklen Sonntagabenden auf meinem Weg zurück ins Wohnheim oft an solchen Familienfenstern vorbei gelaufen und habe mir gewünscht, dort drinnen mit am Tisch zu sitzen. Ich klopfe an Liz' Terrassentür und sehe, wie John von seinem Stuhl aufsteht, Liz mir entgegenkommt und Liz' Mutter über ihre Brille aus der Küche in meine Richtung schaut. Ich bin eingeladen, ich bin willkommen. Wir werden zusammen trinken, essen, über den Tag reden, und später wird Alex dazukommen. Ich habe ihm eine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen.
     
     
     
    U
nser Haus ist leer, auf dem Küchentisch liegt ein Zettel:
Sind bei Liz. Love you.
    Ich laufe einmal durchs Haus, besuche die Zimmer meiner Kinder im zweiten Stock, rieche an ihren Betten, berühre ihre Spielsachen, dann gehe ich nach oben in mein Arbeitszimmer und setze mich an den Schreibtisch. Ich klappe meinen Laptop auf, wähle mich ins Internet ein und schaue mir die Mails an, die heute gekommen sind. Es sind viele.
    Die erste heißt
»soul kitchen«
, kommt von Ira Schneider und stammt aus einem anderen Zeitalter. Er hat sie mittags in Berlin abgeschickt, sie traf hier um sechs Uhr früh ein. Ira ist ein alter amerikanischer Jude, der seit vielen Jahren in Berlin lebt. Er ist Videokünstler und Fotograf, aber weil er davon nicht leben kann und weil die Aktien, mit denen er seinen Lebensabend sichern wollte, nichts taugen, kocht er auch noch auf Veranstaltungen. Er ist ein guter Koch. Wir haben uns in Berlin kennengelernt, aber er war auch schon hier. Zu den hohen jüdischen Feiertagen besucht er seinen Bruder auf Long Island und bleibt auch immer ein paar Tage in New York. Er schläft bei Künstlerfreunden, die zuerst am unteren Ende der Fifth Avenue wohnten, jetzt aber aus Kostengründen nach Flatbush, Brooklyn, ziehen mussten.
    Da hole ich ihn dann mit dem Jeep ab und bringe ihn auch wieder zurück. Ira ist der einzige mir bekannte Mensch, der sich genauso selbstverständlich durch den Prenzlauer Berg bewegt wie durch Brooklyn. Es macht Spaß, mit ihm Lebensmittel in New York einzukaufen, vor allem Gemüse und Fisch. Er kann genau sagen, wann der Fisch gefangen wurde. Er sieht es an den Augen. Mich beeindruckt so was. Wir haben ein paar Bilder von Ira gekauft, großformatige Fotos von Berliner Baustellen, und sie mit nach New York genommen, sie hängen in unserem Wohnzimmer. Wenn er bei uns ist und kocht und unseren besten Rotwein trinkt, wirft er immer einen kurzen, anerkennenden Blick auf die Bilder. Er hat uns in seinem ersten Ausstellungskatalog als Sammler angegeben. »Ende der 90er machte ich die Bekanntschaft der Familie Osang. Sie sind Sammler.« Das klingt natürlich großartig. Bisher sind wir die einzigen Sammler, glaube ich. Ira hat uns in seine Biografie eingefügt wie die Rolling Stones, die er mit wackelnder Kamera in Altamont filmte, und Heiner Müller, den er zusammen mit Godard in dem Kurzfilm
Weekend at the Beach
in Kalifornien aufnahm. Ira redet fast immer nur über sich, es ist seine Art, durch die Zeit zu reisen. Mit Selbstbewusstsein. Hi, ich bin in
Venice
. Hi, darüber habe ich 1968 schon einen Film gedreht. Hi, hier ist ein Artikel aus der
New York Times
, der mich erwähnt. Hi, ich bin in Florida. Hi, morgen koche ich in einem Salon in der Münzstraße. Vielleicht ist es eine Frage des Alters. Der einzige andere Mensch, der sich sicher ist, dass sich die Zeit auf seiner Seite befindet, ist der Opa meiner Frau. Er ruft hier manchmal morgens um halb fünf an, weil ihm der Zeitunterschied egal ist.
    »Es ist mitten in der Nacht, Walter«, sage ich ihm dann.
    »Was?«
    »Es ist halb fünf Uhr morgens.«
    »Na, dann ist es ja langsam Zeit aufzustehen.«
    Iras Mail überwindet die Zeit mühelos.
»I have a vernissage at soul kitchen, linienstr. 136. donnerstag, 13
.
9.
21
uhr. the show is called rock'n'roll. ira.«
    Es ist die letzte unschuldige Mail für lange Zeit. Aber sie gibt den Takt vor für den Tag. Wir rücken enger zusammen. Die Welt wird klein heute.
    Um elf, als ich in der Wolke stand, traf die erste Katastrophenmail ein. Sie heißt: »armer osang«
,
stammt von Ulrike Posche. Sie ist eine
Stern-
Reporterin, die ich vor fünf Tagen in Saarbrücken getroffen habe, wo Oskar Lafontaine ein Buch von Gregor Gysi vorstellte. »Pass auf dich auf, Osang«, schreibt Ulrike Posche
.
    Zu spät. Alles zu spät.
    Herr Dallmann, mein Sparkassenberater, macht sich Sorgen um

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