Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
dass sie die Dinge nicht mehr im Griff haben. Wir versuchen es ja. Ich will ja alles richtig machen. Aber es ist nicht einfach.
It's not easy to be me
, wenigstens bekomme ich einen wunderbaren Parkplatz, direkt in unserem Block. Carroll Street, zwischen 6 th und 7 th Avenue.
Ich sitze noch einen Moment im Auto, um die Augen trocken zu bekommen, die ein wenig feucht sind vom Selbstmitleid. Am Ende der Straße sehe ich, wie Mike, unser irischer Nachbar, eine riesige amerikanische Fahne hisst. Die Fahne ist wirklich extrem groß und breit, man sieht den Supermarkt an der Ecke kaum noch. Es ist der erste patriotische Reflex, den ich wahrnehme, und ich kann ihn hier hinter meinem Lenkrad, den
Superman
-Schlager im Hinterkopf, völlig verstehen. Ich habe noch nie in meinem Leben eine Fahne gehisst, obwohl ich in einem Ostberliner Wohnblock aufwuchs, der mit Fahnenhaltern an den Fenstern ausgestattet war. Wir hatten keine Fahne im Haus, und mein Vater hätte mich enterbt, wenn ich eine angeschafft hätte. Der Vater meiner ersten Freundin hat seine Fahnenhalterung in einem Akt des leisen Widerstandes sogar abgesägt. Ich war nie ein deutscher Patriot, aber offensichtlich habe ich das Zeug zum amerikanischen. Es ist ein seltsames, unbekanntes Gefühl, wahrscheinlich rennt man so in Kriege.
Mike hat die Fahne seit Jahren im Schrank, weil er sie einfach nicht wegwerfen konnte. Es ist Billys Fahne. Billy war ein Weltkriegsveteran, der in einem Haus in Fort Greene wohnte, das Mike in den 70er Jahren gern gekauft hätte. Billy war alt, krank und lebte allein, das Haus war heruntergekommen, aber Mike erkannte das Potenzial des Viertels. Er besuchte Billy immer wieder, warb, hatte ihn fast so weit. Aber bevor Billy einen Vertrag unterschreiben konnte, starb er. Mike ging zu seiner Beerdigung, weil er hoffte, dort Erben zu treffen, mit denen er weiter verhandeln konnte. Aber da waren nur Soldaten, die Billy einen militärischen Abschied gaben. Mike war der einzige Zivilist, sie drückten ihm die Fahne in die Hand, die auf Billys Sarg lag. Er hat das Haus nicht bekommen, aber die Fahne. Sie lag fast dreißig Jahre in seinem Schrank. Heute ist ihr Tag.
I ch gehe durch die Backyards zu Liz' Haus, aber außer Pepper, der rothaarigen Katze von Roxy und Mike, sehe ich niemanden. Pepper ist der wildeste unter den Katern in den Backyards . Er läuft einfach in unsere Küche und frisst Willis Futter auf, er macht ihm das Revier streitig und Mascha hat er schon mal im Gesicht gekratzt. Ich habe mit Mike darüber gesprochen, aber die New Yorker verhalten sich ihren Haustieren gegenüber genauso loyal wie ihren Kindern. Sie entschuldigen alles. Pepper hockt zwischen unserem und Terrys Garten, er faucht mich heute mal nicht an, als ich an ihm vorbeigehe, sondern kommt mir hinterher. Vielleicht die Luft, denke ich. Oder das Licht. Es scheint früher Nacht zu werden heute.
Bei Kate und Terry brennt Licht in der Küche, auch bei Ken, der seinen Söhnen vor vielen Jahren das Baumhaus gebaut hat – neben unserer Schaukel die größte Attraktion in den Backyards . Ich öffne die Tür zu Liz' Garten, ganz ohne Attraktion, abgesehen von seinen Ausmaßen. Es ist der größte im ganzen Hof, vermutlich der größte im ganzen Viertel. Neben dem schmalen Schlauch, der zu jedem Haus gehört, geht es rechts noch weiter, zu einem Teil, der eigentlich Liz' Nachbarn gehören müsste, einer schwarzen kinderreichen Familie. Die Geschichte hat Liz mir nur zögernd erzählt, weil sie ihr unangenehm ist. In den 70ern war der Garten öffentliches Land und gehörte der Stadt. Liz' Vater fand das durch einen Zufall heraus, kaufte es für 595 Dollar, baute einen Zaun darum und verstritt sich auf alle Zeit mit der Familie, die die Fläche hinter ihrem Haus nun nicht mehr nutzen konnte.
Ich kenne Liz' Vater nur von Fotos. Er starb vor fünf Jahren auf dem Weg zum Sommerhaus der Familie in Kanada. Er wollte unbedingt noch einmal nach Stoney Lake, an den Ort, wo sich sein irischer Großvater vor 150 Jahren niedergelassen hatte, aber er schaffte es nicht mehr. Über den Niagara-Fällen hörte er auf zu atmen. Liz' Mutter deckte ihn zu und tat bis zur Landung so, als würde er schlafen.
Bei Liz brennt Licht in der Küche, ich sehe ihren Mann John durch die Scheibe am Tisch sitzen und Liz' Mutter hinter dem Küchentresen arbeiten, dazwischen rennen Elise und Mascha hin und her.
Ich bin froh, dass ich jetzt dort hineingehen kann, in diese gemütliche
Weitere Kostenlose Bücher