Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
sonst, aber die rasselnde Stimme an den Stationen ist dieselbe.
Stand clear of the closing doors, please
. Die Bahn fährt nicht über die Brücke wie sonst, sie fährt durch den Tunnel, kein Blick zurück auf die rauchende Stadt. Unter dem East River stoppt der Zug, er ruckelt ein bisschen und bleibt dann stehen. Das passiert jeden Tag in New York, Züge bleiben auf offener Strecke stehen, weil sie auf irgendetwas warten müssen, meistens aufeinander. Es gibt hier keinen Fahrplan wie in Berlin. Sie schicken einfach eine bestimmte Anzahl Züge los und gucken, was passiert, nehme ich an. Alles schaukelt sich von allein zurecht. Man stellt sich auf den Bahnsteig und wartet auf die U-Bahn. Irgendwann kommt eine, irgendwann fährt der Zug weiter. Kein Grund zur Sorge. Bis jetzt. Die Leute im Waggon schauen auf, sie schauen sich an, und da ist etwas Fragendes in ihren Blicken, das mir neu ist. Geht es weiter? Ist das wirklich nur ein normaler Stopp? Seit heute gibt es Antworten, die niemand für möglich gehalten hat. Ich habe keine Angst, noch nicht.
Es ging alles zu schnell. Es ist noch nicht da, noch nicht wirklich in meinem Kopf angekommen. Ich schaue relativ gelassen in die fragenden Augen der Menschen in meinem Waggon und warte, dass es weitergeht. Bevor wir hierher zogen, habe ich in irgendeinem New York-Ratgeberbüchlein gelesen, dass man direkten Blickkontakt mit den Bürgern der Stadt vermeiden soll. Am Anfang habe ich mich wirklich danach gerichtet. Es war nicht einfach, weil ich gern Leute anschaue, Anja sagt, ich starre. Ich habe jedenfalls krampfhaft keine Leute angeschaut in den ersten Wochen, bis ich davon überzeugt war, dass meine Art wegzuschauen ein viel größeres Ärgernis darstellte. Seitdem schaue ich Leute an. Bisher ist mir nichts passiert.
I ch habe den Fernseher ausgemacht. Es sieht fast so aus, als würde heute kein Flugzeug mehr kommen, kein Haus mehr einstürzen, kein Krieg beginnen. Tinna denkt sogar darüber nach, die Kindergeburtstagsfeier für ihren Sohn morgen Nachmittag doch nicht abzublasen. Paolo wird sieben. Vor einer Woche hat sie Einladungen verschickt. Heute Abend wollte sie Kuchen backen und goodie bags füllen.
»Was meinst du, kann man nach so einem Tag Kindergeburtstag feiern?«, fragt sie mich.
Ich sage ihr, was sie in Ferdinands Schule gesagt haben, dass es für die Kinder das Beste sei, wenn das Leben so normal wie möglich ist. Dabei fällt mir ein, dass ich noch gar kein Geschenk für Paolo habe. Er wünscht sich ein Bionicle , eine von diesen neuen Lego-Figuren, mit Reißzähnen und Leuchtaugen, die wie Aliens aussehen und in runden Büchsen stecken. Ich wollte es heute kaufen, im Spielzeugladen in der 7 th Avenue, auf dem Rückweg von Ferdinands Schule, aber ich habe Paolos Geschenk aus den Augen verloren wie so viele Dinge an diesem Tag. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Spielzeugladen jetzt noch aufhat, dass Leute losgehen, um Puppenstuben, Plüschbären und Plastikkrieger zu kaufen.
Ferdinand schlägt das Internet vor, die Lego-Webseite. Er holt einen Stuhl und setzt sich neben mich in mein kleines Arbeitszimmer auf der Kinderetage, das unser Gästezimmer war, bis es mir in der Kammer neben Alex' Büro zu eng wurde. Wir warten, bis sich der Computer ins Internet eingewählt hat. Es ist eine Nummer aus Brooklyn, sie funktioniert. Langsam baut sich die Legoseite auf mit ihren bunten, kurzbeinigen Männchen. Ferdinand tippt mit dem Finger auf den Bildschirm, dahin, wo das Zeichen für die Bionicles ist, und die freundlichen kurzbeinigen Männchen weichen gruselig aussehenden Kriegern mit Insektenbeinen. Es gibt Gute und Böse, Paolo will einen Bösen, sagt mein Sohn. Ich drücke die Bestelltaste, gebe meine Adresse und Mastercardnummer ein, klicke bei Lieferoptionen auf »Overnight-Express« und gehe dann zu AOL, um auf die Bestätigungsmail zu warten.
Ich habe neun neue Mails. Die erste ist vom Chefredakteur der Mitteldeutschen Zeitung in Halle, der mir noch nie geschrieben hat. Er fragt mich, ob es mir gutgehe »angesichts der schrecklichen Ereignisse in New York und Washington« und »falls das so ist: Könnten Sie uns etwas schreiben?« Annette, die Frau von Alex' Kollegen Jan, erkundigt sich aus White Plains: »Ihr Lieben, seid ihr ok? Wir sind völlig fertig, es ist grauenhaft. Wir haben uns Sorgen um Alexander gemacht und hörten dann, dass er zu Hause geblieben ist. Wie gut.«
Corinna, eine Freundin aus Berlin, die im Reisebüro
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