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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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arbeitet und immer für uns die Flüge nach Deutschland bucht, hofft, dass wir »wohlauf« seien. »Da ist einem schon unwohl zu wissen, dass ihr so nah dran seid. Die Leute hier sind alle sehr betroffen.« Dagmar, die Chefsekretärin der Berliner Zeitung , bittet mich, ihr zu schreiben, ob alles in Ordnung sei und ob sie irgendwas für uns tun könne. Ralf, ein ehemaliger Kollege von der Welt , fragt mich, wie es mir geht. Thomas vom Magazin der Berliner Zeitung schreibt, wir könnten uns sicher vorstellen, welchen Schrecken die Bilder bei ihnen in Berlin ausgelöst haben und bittet Alexander, sich zu melden, »auch wegen der Kolumne am Wochenende«. Die längste Mail kommt von Ricarda und Ralf aus Mittenwalde. Mittenwalde ist ein Dorf in Brandenburg. Ralf ist dort seit Kurzem Pfarrer, er will die schöne alte Kirche sanieren und die Gemeinde neu aufbauen. Gestern haben Ricarda und ich noch lange miteinander telefoniert. Heute schreibt sie: »Wir sind entsetzt und total geschockt. Unsere Ge„danken sind bei euch und den Kindern. Wir hoffen innigst, dass es euch gutgeht.« Ralf versuche gerade, »das Unfassbare in Worte zu fassen, für einen Trauergottesdienst in der Kirche«. Ihre Kinder seien auch ganz durcheinander. »Immanuel will immerzu wissen, was Ferdi gerade macht.«
    Es rührt mich, dass so viele Menschen an mich denken, aber ich schäme mich auch ein bisschen für meinen unspektakulären Tag. Ich bin nicht gestorben, ich bin nicht verletzt, ich bin nicht mal eingestaubt wie mein Mann. Else Buschheuer musste wenigstens kotzen. Und ich? Bestelle einen Plastikkrieger für 26.48 Dollar im Internet.
    Ich scrolle weiter durch die Mails, in der Hoffnung, eine Nachricht von der Zeit zu finden. Aber die letzte Zeit -Mail ist von heute Morgen, da war noch alles in Ordnung, da waren die USA noch das Land, in dem literarische Wunderkinder geboren werden, und nicht eine Nation im Ausnahmezustand. Dave Eggers ist klein geworden im Laufe dieses Tages, unbedeutend, eine Randmeldung, und mein Text Altpapier. Ich habe viele Jahre in der Redaktion von Tageszeitungen gearbeitet, ich weiß, dass kein Mensch zwei Tage nach den Terroranschlägen ein Porträt über die verrückten Einfälle eines jungen aufstrebenden amerikanischen Schriftstellers lesen will. Wenn mein Text mitkommt, dann nur, weil es zu spät war, ihn rauszuschmeißen.
    Ich sehe schon, wie die Redakteure am Donnerstag in der großen Konferenz sitzen, das Magazin in der Hand mit Dave Eggers auf dem Titel, wie sie meinen Text stirnrunzelnd überblättern und über die anderen reden, die Geschichten, die man jetzt unbedingt aus Amerika erzählen muss. Vielleicht rufen sie mich an und fragen, ob ich etwas erlebt habe, ob ich in Manhattan war. Und ich sage: »Nein, tut mir leid, mein Mann ist nach Manhattan gefahren, ich bin bei den Kindern in Brooklyn geblieben. Ich habe ferngesehen wie Sie und ich habe versucht, einen Hampelmann zusammenzubasteln.«
    Ich verfasse ein paar kurze Mails. Lebenszeichen. Annette lasse ich wissen, dass es uns gutgeht, »auch wenn Alex natürlich nicht zu Hause geblieben ist«. Sie antwortet prompt und fragt, ob wir zu ihnen nach White Plains kommen wollen. An Ricarda schreibe ich, dass hier bei uns Asche vom Himmel fällt, dass Alex nach Manhattan gelaufen ist, als er noch dachte, es handele sich um einen Flugzeugabsturz. »Er ist jetzt bei Freunden in Manhattan, die Kinder spielen. Danke, dass ihr euch sorgt. Die Twin Towers waren Ferdis Lieblingsgebäude in Manhattan, wir konnten sie von unserem Dach aus sehen.«
     
     
     
    I
ch steige Jay Street aus der Subway, ich stehe zwischen den Brücken, der Himmel ist blau, ein Nachmittagsblau, in dem die graue Wolke ausläuft wie Wischwasser. Ich laufe nach Brooklyn Heights weiter und komme mir sehr langsam vor, verglichen mit dem rennenden Mann, der hier heute Vormittag ankam. Sechs Stunden ist das jetzt her oder fünf oder sieben. Ich habe jedenfalls keinen Strafzettel bekommen, obwohl mein Auto, wie ich erst jetzt sehe, mit einem seiner fetten Geländewagenreifen auf dem Bürgersteig steht. Es ist unglaublich friedlich hier in dieser schattigen kleinen Straße von Brooklyn Heights. Kein Zeichen der Katastrophe, nichts. Lange Schatten fallen auf den Bürgersteig. Hier kann man eine Weltkatastrophe komplett verschlafen. Ich sehe mich in der Fensterscheibe des kleinen Lebensmittelladens, und dahinter den Mann an der Kasse, der vor dem Zigarettenregal steht, und auch die gelben und roten und

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