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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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wohl in jenen Tagen, ihnen diese Macht aus den Händen zu nehmen, indem sie ihre Zusicherungen geringschätzte, geringzuschätzen schien. Aber es ging um mehr. Wenn die Traditionen und die Geschichte so wichtig waren, wenn das ›wir‹ für sie ein so unerschütterlicher Wert war, dem man nicht den Rücken kehren durfte, so mußten sie es widerwillig akzeptieren, wenn sie in ein Land ging, das in der Begeisterung für so ein ›wir‹ gegründet worden war, doch gleichzeitig würden sie eine Wunde empfangen, die so leicht nicht zu verbinden war. Hier spielte Şeli ihre Bosheit sehr gut aus. Ihre Eltern konnten nicht sagen, daß das Land, in das sie ging, für sie eigentlich ein ›anderes‹ Land, eine andere Kultur war. Dabei basierte die Vorstellung von der friedlichen Fortsetzung der Tradition auf dem gegenwärtigen Zusammenleben mit ihresgleichen in diesem Land. Ihre Eltern setzten sich mit dieser Tatsache ebenfalls nicht auseinander …
    Yorgos kam nicht zu dem Abschiedsessen, das wir organisiert hatten, um sie zu geleiten. Wir hatten sowieso nicht erwartet, daß er teilnehmen würde. Sie würden mit ihren inneren Wunden an unterschiedliche Orte gehen. Das Essen war deshalb ein wenig traurig. Doch was Şeli gegen Ende des Abends sagte, war unvergeßlich: »Ich weiß nicht, mit wem ich was erleben werde, dort, wo ich hingehe. Doch ich werde so leben, daß es diejenigen, die mich hier gehindert haben, meine Wünsche umzusetzen, eines Tages sehr bereuen werden …«
    Diese Worte erschreckten mich sehr, sie machten mich traurig und gleichzeitig, warum soll ich es verbergen, ein wenig eifersüchtig. Es schien, als ob Şeli, während sie sich an den zu Feinden gewordenen Menschen rächen wollte, die ihr gegenüber jene Mauer erbaut hatten, die sie nicht einreißen konnte, gleichzeitig sich auch an sich selbst rächte. Höchstwahrscheinlich würde sie sich am Feuer der Rache verbrennen, das sie entzündet hatte, um sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie wurde ja immer schon leicht wütend, lebte ihre Empörungen. Ihre Empörungen und Gefühle … So habe ich sie während der Zeit unserer Freundschaft kennengelernt. Ihr Entschluß ebenso wie die Art der Durchführung bestätigten nochmals ihren Blick aufs Leben, ihre Einstellung. Das war es, was mich beunruhigte. Die Eifersucht jedoch, die ich wegen ihres Weggangs verspürte, bezog sich darauf, daß sie den Mut hatte, ganz allein in einem anderen Land ihr Leben aufzubauen. Zwischendurch versuchte ich, sie von ihrem Entschluß abzubringen. Indem ich sagte, sie könne dort nicht glücklich werden … Es sei nicht so leicht, in einer anderen Sprachwelt mit Menschen, die aus anderen Kulturen kommen, ein neues, ein gefühlsverbundenes Leben zu begründen, es sei für den Menschen nicht so leicht, sein Land und seine Gewohnheiten aufzugeben. Außerdem würde sie unter Menschen geraten, die leider im Krieg um ihr Überleben kämpfen mußten und die deswegen hart geworden, hart zu werden gezwungen waren … Kurzum, ich sagte alles, was ich zu sagen hatte. Damals machte ich mir natürlich nicht klar, daß der Grund, weshalb ich versuchte, an ihren gesunden Menschenverstand zu appellieren, Neid war und die Angst zurückzubleiben. Die Dinge fingen an, sich arg zu verwirren. Und unsere Gefühle waren äußerst durcheinander. Zudem brachte Şeli durch ihre Abreise jeden auf andere Weise in Bewegung. Im Grunde kehrten wir alle unser Inneres irgendwie nach außen. Die Schritte, die getan wurden, waren das Ende einer langen Vorbereitung, eines Wartens. Was wir fühlten, was wir erzählten und nicht erzählten, versteckte sich in den Ziegelsteinen einer Geschichte, die wir langsam zusammen aufgebaut hatten.
    Yorgos hatte beschlossen, sich in Frankreich niederzulassen. Auch er würde in ein anderes Land, in ein anderes Leben gehen. Es war leicht zu verstehen, warum er diesen Entschluß gefaßt hatte. Wie kann jemand nach einer solchen Trennung das Gefühl des Zurückbleibens ertragen? … Zumal wenn es keine zwingenden Gründe gibt, in der Stadt, in der man lebt, Wurzeln zu schlagen … Wenn das Leben einen mit aller Härte gelehrt hat, zu gehen, alles zu verlassen, mit dem Leben zu spielen … Der Weggang von Yorgos rief in uns nicht nur Trauer über die Trennung hervor, sondern auch Hoffnung in Hinblick auf den Kampf. Eine Hoffnung, die uns trotz aller Zweifel suggerierte, noch mehr an unsere Zukunft zu glauben, uns zu binden … Zumindest wollte ich das Erlebte so sehen …
    Es gab

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