Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
noch jemanden unter uns, der mit jedem Tag mehr an dieses Fortgehen und die Tür, die sich dadurch auftat, glaubte. Auch er bereitete sich zweifellos langsam innerlich darauf vor. Ungefähr zwei Jahre nach Şelis Fortgang entschloß sich auch Niso, für immer nach Israel zu gehen. Damals hatte er an der Technischen Universität die Ausbildung zum Elektroingenieur beendet, und die neue Arbeit, die er fand, bereitete ihm nichts als Enttäuschung. Sein Entschluß war im Vergleich zu Şelis wesentlich realistischer begründet, jedenfalls in meinen Augen. Er stammte aus einer Familie mit sehr begrenzten Möglichkeiten. Während unserer gesamten Schulzeit hatte er nur unter tausend Schwierigkeiten und immer verspätet das monatliche Schulgeld zahlen können. Sein Vater war Rabbiner an einer havra , wo ihn die Gemeinde angestellt hatte, und er arbeitete zu einer offensichtlich wenig glanzvollen Bezahlung.
»Ich habe hier keine Zukunft …«, sagte Niso einmal, als sein Entschluß sich langsam formte. Ich verstand. Er wollte sagen, daß für ihn nicht wie für mich ein Laden bereitstand. Er hatte keinerlei Kapital für ein eigenes Geschäft. Es gab auch kaum Arbeitsmöglichkeiten für Elektroingenieure. Außerdem war er an der Universität in einige politische Aktivitäten verwickelt gewesen und nach einem Demonstrationszug eines Nachts in einer einsamen Straße von einer Gruppe Faschisten verfolgt, schlimm verprügelt und mit dem Tode bedroht worden. Was konnte ich zu alldem sagen … Nun würde also auch noch der letzte Schauspieler der ›Truppe‹ weggehen. Ich verlor einen weiteren Freund. Leider blieb mir nichts übrig, als ihn zu unterstützen. Trotz meiner Trauer und meiner Verluste … Meine Trauer rührte nicht bloß daher, daß ich einen weiteren Freund verlor. Ich war über seinen Weggang auch traurig, weil ich wußte, wie sehr er Istanbul liebte. So wie er die Entzückungen, Vorlieben, die Art, das Leben zu spüren und zu interpretieren, wahrnahm, war er sehr einheimisch, mehr als wir anderen alle, denn er gehörte zu dem Gefühl, der Geschichte der Stadt. Deshalb hatte ich Sorge, er würde den Weggang nur schwer verkraften. Auch er war sich bewußt, wie schwer dieser Schritt für ihn würde. Wie hätte ich mir sonst erklären können, daß er sich im voraus einen Plan machte? … Ja, er versuchte, den Spuren eines Plans für die Reise zu folgen. Das konnte ich sehen. Ein Reiseplan … Um mehr an das neue, mögliche Leben zu glauben … Dort würde er die Sprache lernen, dann würde er sicher irgendwo Arbeit finden. Außerdem verfolgte er noch eine andere Hoffnung. Sein Weg wurde irgendwie durch das Licht seines Musikantentums erhellt. Ja, er war auch Musikant. Er spielte sehr gut Gitarre. Sein Ausspruch: »Vielleicht bleibe ich dort irgendwo hängen …« hatte damit zu tun. Welche Bedeutung für ihn das ›Hängenbleiben‹ inzwischen auch immer haben mochte …
Ich blieb allein zurück in meiner Stadt und träumte davon, eines Tages ebenfalls wegzugehen. Es waren meine letzten Tage an der Istanbul-Universität in der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Ich mußte nur noch ein paar Prüfungen machen. Was würde ich mit meinem Studium anfangen können? … Auch ich würde meinen Weg machen im Rahmen meiner Möglichkeiten … Şeli und Niso waren für ein anderes Leben mit unterschiedlichen Sehnsüchten und Erwartungen nach Israel gegangen. Ob Necmi sein Studium der Politikwissenschaft abgeschlossen hatte, wußte ich nicht. Wir hatten einander aus den Augen verloren … Vielleicht würden wir eines Tages alle endgültig an verschiedenen Orten bleiben … Şebnem und Yorgos würden ebenfalls in anderen Städten und bei anderen Menschen bleiben. Konnten andere Länder uns wirklich ein besseres Leben geben als dieses Land, das uns zu uns selbst gemacht hatte? Warum hatten einige von uns nicht an dieses Land geglaubt, nicht glauben können? … Ein jeder mochte darauf seine eigene berechtigte Antwort haben. Ich löste dieses Problem irgendwie in England, wo ich es nach meinem Studium allerdings nur kurze Zeit aushielt. Nicht einmal die negativen Seiten einer Stadt können einen Menschen vertreiben, der dort geboren wurde, aufgewachsen ist und erzogen wurde. Vielmehr definiert er sich vor allem durch seine Sprache. Istanbul war mein Schicksal, und dieses Schicksal würde ich bis zum Ende tragen … Doch ich wußte, meine Bedingungen waren ganz andere als die der anderen Weggefährten der ›Truppe‹. Und
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