Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
allein war, bedankte dieser sich für mein Kommen. Ich schwieg und versuchte zu lächeln. Ich konnte nicht sagen, daß ich meinetwegen, allein meinetwegen, gekommen war. Dann schwiegen wir. Nach ein paar Minuten kehrte meine Mutter zurück und gab mit leicht weinerlicher Stimme bekannt, ich könne meinen Vater nun sehen, wenn ich wolle. Mir schien, sie wollte mir Schuldgefühle machen. Weil ich jenes Haus verlassen hatte … Weil ich ja ihre einzige Tochter war und ich ihnen nicht das Leben geschenkt hatte, das sie von mir erwartet hatten … Ich versuchte, nicht darauf einzugehen. Ich war sowieso aufgewühlt … Meine Spannung steigerte sich, als meine Mutter, ehe wir ins Zimmer traten, sagte, mein Vater habe sich sehr verändert und auf zweiundvierzig Kilo abgenommen. Daraufhin sagte ich, ich wolle allein hineingehen. Sie blickte mich wieder mit weinerlichem Gesicht an. Ich wurde natürlich wütend. Doch in diesem Moment nutzte mir das nicht viel. Ich trat ein und schloß langsam die Tür, wobei ich mich bemühte, nicht zuviel Krach zu machen. Ich schaute mich um. Er sah tatsächlich sehr erschöpft aus. Es war nicht klar, ob er schlief oder wach war. Der Anblick war erschreckend. Der Mann, der einst gemeint hatte, das Leben in der Hand zu halten, lag nun schutzlos vor mir wie ein krankes Kind. Plötzlich öffnete er seine Augen einen Spalt weit. Er versuchte zu lächeln. Mit der Hand machte er ein Zeichen, daß ich mich neben ihn setzen sollte. Er wirkte sehr hilflos. Ich hatte geglaubt, er würde mir nicht leid tun, aber in dem Augenblick tat er mir doch leid. Ich ergriff seine Hand. Auch er faßte meine Hand und versuchte, sie zu drücken. Er sagte: ›Ich habe nur noch wenig Zeit. Das war's dann halt.‹ Seine Stimme kam fast wie ein Flüstern. Ich sagte zu ihm, ich könne ihn nach Israel bringen, wenn er wollte, dort gäbe es sehr gute Ärzte. Er lächelte bitter, als wollte er sagen, dazu sei es jetzt zu spät … Er fragte mich, ob es mir gutginge. Ging es mir gut? … Ich merkte, daß sich seine Frage nicht nur auf den gegenwärtigen Augenblick bezog, sondern auf mein ganzes Leben. Wie konnte ich einen derartig komplexen Gefühlszustand wie meinen mit › gut‹ bezeichnen? … Ich hatte mich von meinem Geliebten getrennt, mein Vater starb, ich war gezwungen gewesen, unter völlig widrigen Umständen in die Stadt zurückzukehren, in die ich nie hatte zurückkehren wollen, und in der Stadt, wo ich leben wollte, hatte ich mir das gewünschte Leben immer noch nicht geschaffen. Dennoch gab es zu diesem Zeitpunkt für mich nur eine einzige Antwort, die viele Bedeutungen haben konnte … Mit ruhiger Stimme sagte ich, es gehe mir gut, sehr gut … Mir war die Heuchelei meiner Antwort bewußt. Doch wir hatten weder Zeit noch Kraft, einen neuerlichen Streit anzufangen. Er sagte, er freue sich sehr. Ich fragte, ob das stimme. Ich war mir sicher, daß er verstand. Ich kannte ihn. Er hatte nicht studiert, war aber sehr intelligent. Außerdem hatte er einen Lehrer gehabt, der so mitleidlos wie wertvoll gewesen war, das Leben. Er nickte leicht mit dem Kopf und schloß die Augen. Er sagte nicht ein Wort. Vielleicht wollte er zustimmen, vielleicht wollte er keine verletzende Antwort geben. Wir schwiegen ein wenig. Dann sagte er, er sei müde. Ich hielt immer noch seine Hand. Eigentlich hatte ich sie nicht losgelassen, seit ich mich neben ihn gesetzt hatte. Ich sagte, er solle ein wenig ausruhen, auch könne ich ihm, wenn er es wollte, zu essen geben. Seine Augen füllten sich. Ich wußte sehr wohl, für wen ich auch das tat …
So vergingen ein paar Tage. Wir beide taten, was wir konnten, den Abschied nicht zu schmerzlich werden zu lassen. Ich flößte ihm sogar Hühnersuppe mit Fadennudeln ein. Etwa eine Woche nach meiner Ankunft sagte meine Mutter eines Abends: ›Er verlangt nach dir.‹ Ich setzte mich wieder neben ihn aufs Bett und nahm seine Hand. Er sagte, es sei nun Zeit für ihn zu gehen und ich solle ihm verzeihen. Ich hielt seine Hand fest und küßte sie. Daraufhin sagte er, er habe Gott gebeten, mir meinen Weg zu ebnen. Dann sagte er: ›Ich will nun allein bleiben.‹ Ich verstand. Er wollte nicht in meiner Gegenwart sterben. Ich stand auf und ging still hinaus. Meine Mutter war im Salon. Ich machte mit den Händen ein Zeichen, das besagte ›Es ist vorbei.‹ Auch dieses ›Es ist vorbei‹ war vieldeutig. Sein Leben war vorbei, Istanbul war vorbei, mein Groll war vorbei … Such dir eine Deutung aus, die
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