Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
wußte, was ich erfahren hatte. Daß sie lange in Israel gewesen sei, daß sie eine schlimme Ehe hinter sich habe, daß sie dann eine Beziehung mit dem besten Freund ihres Mannes angefangen habe, nach Izmir gekommen sei und geheiratet habe …
Sie hörte meinen Worten mit immer größerer Verblüffung zu. Sie wirkte, als schämte sie sich ihrer Nacktheit. Ihre Verlegenheit rührte mich … Drum konnte ich unmöglich an der Reinheit, der Unschuld ihrer nächsten Frage zweifeln.
»Ist das sehr schlimm? … Hast du mich verurteilt, als du das gehört hast? …«
Brachte sie eines von ihren ungelösten Problemen, eine Zwangsvorstellung, die sie nicht hatte überwinden können, zur Sprache? War es ihr vielleicht nicht gelungen, sich mit dieser Seite ihres Lebens ausreichend auseinanderzusetzen? … Wenn sie diese Frage in dieser Weise stellen mußte … Vielleicht hatte sie aber auch gefragt, um mich besser zu verstehen, also mich auf die Probe zu stellen. Ich weiß nicht, warum mir diese Möglichkeit plötzlich einfiel, doch sie fiel mir halt ein … Daraufhin versuchte ich, meine Gefühle so auszudrücken, wie sie mir aus der Seele kamen. Ich hatte das Bedürfnis, meine Lebenseinstellung zu zeigen.
»Jeder hat das Recht, so zu leben, wie er will. Mein Leben hat mich gelehrt, andere nicht zu verurteilen. Sowohl, daß es andere Werte gibt, als auch, daß diese für andere richtig sein können … Selbstverständlich habe ich dich nicht verurteilt. Ich war nur traurig, weil ich dachte, daß du leiden mußtest … Ich war nur traurig …«
Sie ergriff liebevoll meine Hand und drückte sie. Vielleicht weil sie mir nur auf diese Weise danken konnte. Hier hätten wir innehalten können. Doch sie fühlte sich gedrängt, noch eine Erklärung abzugeben.
»Damals war mein Leben sehr durcheinander. Ich hätte nicht in Istanbul bleiben können. Ich wollte mir in einer anderen Stadt ein ganz neues Leben aufbauen und alles hinter mir lassen, was ich erlebt hatte … Das habe ich mir so gedacht …«
Das habe ich mir so gedacht … Dieser kleine Ausspruch drückte ja so viele Gefühle aus … Er ließ soviel Bereuen, Kritik, Selbstkritik, Ausweglosigkeit, Hilflosigkeit, Niederlage anklingen … Doch auch einen Sieg. Offenbar klang ein Sieg an, der heimlich genossen werden wollte. Ein Sieg, für den der Preis bezahlt worden war … Ein Sieg, der von der berechtigten Freude sprach, trotz aller Zusammenbrüche aufrecht aus dem Kampf zurückgekehrt zu sein … Ja, den Ausdruck konnte man nur verwenden, wenn man noch aufrecht stand … Doch wo war die Siegesfahne aufgerichtet worden? … Für wen war diese Siegesfahne nach all den Opfern von Bedeutung? … So weit konnte ich mich nicht vorwagen. Ich sagte nur, um sie mit ihrer Aussage nicht allein zu lassen, was viele Menschen sagen konnten … Das war am einfachsten …
»Du hast das erleben müssen … Du mußtest gehen. Du erinnerst dich vielleicht, daß ich damals zu denen gehörte, die dich am meisten unterstützt haben … Das tut mir nicht leid …«
Sie nahm noch einen Schluck Raki. Und ein paar Bissen von ihrem Essen … Ich tat das gleiche. Wir schwiegen … Ich wollte nicht sagen, was ich fühlte, denn ich wollte das Thema nicht wechseln. Sie sollte erzählen. Und ich wollte zuhören. Diese Szene des Stücks mußte in dieser Weise gespielt werden. Sie tat bald, was von ihr erwartet wurde.
»Meine erste Hürde war damals die Sprache … Plötzlich wurde ich in meinem Alter zur Analphabetin. Etwa ein Jahr lang besuchte ich einen Sprachkurs. Ich strengte mich an. Ich hatte dort auch Verwandte. Vettern, Cousinen, ihre Ehepartner und Familien, die ich im Leben nie gesehen hätte, wäre ich nicht dorthin gegangen. Ich hätte es auch nicht für nötig gehalten, sie zu sehen … Freilich hatten auch sie ihre eigenen Leben. Doch trotz aller eigenen Schwierigkeiten haben sie sich ziemlich um mich gekümmert, das will ich ihnen jetzt nicht absprechen. Sie haben getan, was sie konnten … Vielleicht waren sie vorgewarnt. Sicherlich haben sie zueinander gesagt, das Mädchen macht hier nur eine weitere Dummheit. Was für eine Dummheit sollte ich noch machen? … Ich hatte schon eine gemacht, hatte es schon gründlich versaut … Indem ich nicht nur meine eigenen Träume, sondern auch die eines anderen Menschen zerstört hatte … Nun ja … Hätte ich gewußt, was mich erwartete, hätte ich vielleicht das, was ich damals eine Dummheit nannte, anders bezeichnet. Doch damals dachte ich
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