Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
so, und weil ich so dachte, spürte ich, daß die anderen ebenso von mir dachten …«
In dem Moment hatte ich das Bedürfnis, sie zu unterbrechen. Um ihr sowohl die Gelegenheit zu einem kleinen Atemholen zu geben als auch in der Hoffnung, das Thema noch etwas zu erweitern …
»Ist das nicht die beste Seite unseres Lebens, daß wir unseren Weg gehen, ohne zu wissen, was kommt …«
Warum spielte ich die Rolle des ›Weisen‹? … Fürchtete ich mich vor dem, was ich hören würde, oder wollte ich mich selbst schützen? … Doch wovor fürchtete ich mich, womit wollte ich nicht konfrontiert werden? … Was ließ mich diese Worte, die ich von jemand anderem übernommen haben mußte, wie meine eigenen aussprechen? War es, daß eine weitere Lebensgeschichte mich an eine andere Zielverfehlung erinnerte, um mir dabei womöglich meine eigene Feigheit zu zeigen … Warum tat ich mir das also an? … Noch dazu in solch einer Zeit. In einer Phase, in der ich versuchte, eine schwierige Kurve zu nehmen … Ich mußte einhalten, ohne weiter in die Tiefe zu gehen, in die mich diese Fragen zogen. Ich sah sie wieder lächeln. Ich konnte mich in die Freundschaft flüchten, die in diesem Lächeln lag. Ich konnte schweigen und versuchen, mich ein wenig von den Stimmen in meinem Inneren zu entfernen. Ich spürte, daß sie etwas erzählen wollte. Sie wollte ihre Geschichte fortsetzen. Es schien, als würde es dieses Mal länger dauern. Dieses Mal mußte ich wirklich schweigen. Ich hatte keine Wahl, als zuzuhören und zu verstehen zu versuchen. Ich war ihretwegen hier. Das, was ich hören würde, würde mich mit einer anderen Seite von mir konfrontieren.
»Jene Familienbande fielen mir nach einer Weile ziemlich auf die Nerven. Sie waren zwar ruhige Menschen, die sich nicht allzusehr bemühten, mein Leben zu lenken. Doch, wie ich schon sagte, ich konnte mich irgendwie nicht von der Verpflichtung lösen, mich von irgendwem kontrollieren zu lassen. Du kannst verstehen, was für eine böse Lebenserfahrung ich gemacht und in welche Lage mich diese Erfahrung gebracht hatte. Ich konnte diese Beziehungen, die mich allzusehr belasteten, in meinem neuen Leben nicht mehr ertragen. Langsam setzte ich mich von ihnen ab. Sie verstanden mich und bedrängten mich nicht. Es war dort leichter, solche Entscheidungen zu treffen. Außerdem hatten auch sie nach all den vielen Jahren den Geist des Landes übernommen. Ihre Kinder wuchsen in einer Umgebung auf, in der sie viel unabhängiger sein würden. Diese Unabhängigkeit war sogar ein Bestandteil der Erziehung. Nachdem ich Hebräisch gelernt hatte, beschloß ich, Modedesign zu studieren. Wenn du dich erinnerst, war ich nicht schlecht im Zeichnen. Auch hatten andersartige Kleidungsstücke immer mein Interesse erweckt … Ich fand unterdessen auch Arbeit als Kellnerin. Das heißt, ich fing an, ein bißchen Geld zu verdienen. Mit zwei anderen Studentinnen zusammen nahm ich eine kleine Wohnung. So vergingen drei Jahre. In dieser Zeit bin ich nicht nach Istanbul geflogen, obwohl ich es gern gewollt hätte. Doch meine Familie kam mich besuchen. Und zwar viele Male. Sie gaben die Hoffnung nicht auf, daß ich zurückkehren würde. Ich meinerseits versuchte, ihnen immer zu zeigen, wie glücklich ich doch war. Eigentlich kämpfte ich mit vielen Problemen. Ich fühlte mich manchmal sehr allein, ich sehnte mich danach, daß mir jemand Frühstück machte, ich sehnte mich, auf der Straße ein Sandwich mit Muscheln zu essen und mit jedem Türkisch sprechen zu können, doch ich war nun einmal trotzig. Ich mußte durchhalten. Ich war noch immer wütend auf sie, insbesondere auf meinen Vater, der mich daran gehindert hatte, den Mann zu heiraten, den ich liebte. Irgendwie konnte ich diesen Zorn nicht ablegen, verstehst du? … Ein-, zweimal versuchten sie herauszufinden, ob ich eine ernsthafte Beziehung hatte. Es gab keine. Da und dort blieb ich halt mal hängen. Sie konnten das Thema aber nicht vertiefen. Ich hatte ihnen gegenüber eine Barriere aufgebaut, die sie akzeptieren mußten, auch wenn es ihnen nicht gefiel … Sie mußten einsehen, daß sie unter den neuen Bedingungen mit ihrer dickköpfigen, unbesonnenen Tochter nicht fertig wurden. Nur einmal äußerten sie, es würde sie sehr glücklich machen, wenn ich jemanden heiraten würde, der zu ›uns‹ paßte. Ich antwortete scharf und sagte, sie brauchten sich keine Sorgen zu machen, ich sei ja nun von Juden umgeben. Darauf fanden sie keinen Einwand. Dabei wußte
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