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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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ich natürlich genau, was sie meinten. Ihr Traum war, ich sollte einen türkischen Juden heiraten … Für sie war dies das rechte Leben. Eigentlich muß ich dir das nicht sagen, du weißt ja, wie das ist. Für mich aber würde das Leben so weitergehen … Anders hätte ich kein Selbstvertrauen gewinnen können. Ich war derart erschüttert … Das heißt, ich ließ mich absichtlich treiben …
    Doch eines Morgens bekam ich aus Istanbul eine Nachricht. Mein Vater war sehr krank. Es war Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert worden. Man hatte ihn operiert, aber die Ärzte hatten ihn sofort wieder zugemacht. Die Krankheit schritt unheimlich rasch fort. Er war sehr schwach geworden. Seine Tage waren gezählt. Er wollte mich ein letztes Mal sehen. Ich konnte nicht viel sprechen und legte den Hörer auf. Es war ein Samstag, das vergesse ich nie. Der Sommer ging zu Ende. Ich hatte mich gerade von meinem französischen Geliebten getrennt, mit dem ich ungefähr anderthalb Jahre zusammengewesen war. Ich litt sehr. Ich war in Trauer. Als ob das nicht schon reichte, erwartete mich ein neuer Trauerfall. Es war mein letztes Jahr an der Universität. Die Vorlesungen sollten beginnen, aber vorher waren noch Feiertage. An jenem Tag spazierte ich ein paar Stunden am Strand entlang. Ich erinnerte mich an das, was ich erlebt hatte, wog es ab, dachte nach. Ich legte mir noch einmal Rechenschaft ab, kämpfte mit mir. Ich schwankte, ob ich nach Istanbul zurückkehren sollte oder nicht. Dann entschloß ich mich zu fahren. Ja, ich würde meinen Vater ein letztes Mal sehen. Ich war nicht allzu traurig, daß er starb, aber ich wollte ihn sehen. Es würde mir sonst später sehr schwer fallen, mit diesen Gewissensbissen zu leben. Du kannst das interpretieren, wie du willst. Ich wollte es nicht interpretieren. Ich will es immer noch nicht interpretieren. Ich fühlte so und hörte auf die Stimme meiner Gefühle, das ist einfach alles … Ich würde fahren, so lange bleiben, wie es ging, und dann wieder zu meinem selbstgewählten Leben zurückkehren. Auch in jenem Leben gab es nun eine Liebeswunde, aber dieses Mal wollte ich nicht mehr fliehen …
    An jenem Abend telefonierte ich mit meiner Mutter und sagte, ich werde in ein paar Tagen kommen. Sie freute sich sehr. Tatsächlich hatte ich innerhalb von zwei Tagen die Koffer gepackt und machte mich mit dem Flugzeug auf den Weg, sozusagen in meine Heimat. Mittlerweile waren mit dem Sprachkurs, mit ein bißchen Bummeln und dem Studium fast fünf Jahre vergangen. Fünf lange Jahre fern von Istanbul … Ich hatte den Tag und den Zeitpunkt meiner Ankunft mitgeteilt. Am Flughafen erwarteten mich nur meine Mutter und mein Onkel, der Bruder meiner Mutter. Nachdem sie im Auto ein wenig herumgeredet hatten, sagten sie, mein Vater sei zu schwach, um aufzustehen. Die Ärzte hätten ihm erlaubt, sich zu Hause auszuruhen. Ich wußte, was diese Erlaubnis bedeutete. Ich sagte nichts mehr und nickte nur mit dem Kopf, um anzudeuten, daß ich die Situation erfaßt hatte. Ich schaute lange aus dem Fenster … Während der Fahrt bemerkte ich, wie ich mich in jeder Hinsicht von Istanbul entfernt hatte. Die Straßen kamen mir eng und dunkel vor. Es war, als wollten die Häuser über mir zusammenfallen. Hätte mir in meiner Kindheit oder Jugend jemand gesagt, daß mir Şişli eines Tages fremd vorkäme, hätte ich es nicht geglaubt und ihn ausgelacht. Doch es war so. Ich betrachtete meinen Wohnbezirk nun mit anderen Augen. Daraus kann man ersehen, wie sehr ich das Leben ablehnte, das ich zurückgelassen hatte, wie sehr ich mich davon distanzierte … Je mehr wir uns dem Haus näherten, um so mehr entfernte ich mich. Endlich waren wir da. Als ich eintrat, hatte ich das Gefühl, daß es überall nach Tod roch. Das kam vielleicht vom Geruch der Medikamente, ich weiß nicht. Meine Mutter und mein Onkel wollten, daß ich in den Salon ging. Ich schaute mich um. Es schien alles so zu sein, wie ich es verlassen hatte. Wir setzten uns hin und tranken einen Mokka. Wir redeten dies und das. Ich mochte eigentlich meinen Onkel gern. Er war ein zarter Mensch. Vielleicht hatte er aus diesem Grund nie geheiratet, er führte das Leben eines ewigen Junggesellen. Er tat aber alles, damit ich mich wohl fühlte. Deshalb wollte ich ihn nicht kränken und versuchte, seine Liebe zu erwidern. Irgendwie konnte ich nicht nach meinem Vater fragen. Plötzlich stand meine Mutter auf und sagte, sie wolle ins Schlafzimmer gehen. Als ich mit meinem Onkel

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