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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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anderen Klima mit anderen Kämpfen vergangen war. Sicherlich gab es auch Dinge, die er nicht hatte erzählen wollen oder können. Ja, darüber würden wir reden, wenn wir uns getroffen hatten. In seiner Erzählung lagen auch ein solches Versprechen und eine Erwartung. Solch eine Suche nach Offenheit … Damit man sich besser verstehen und mitteilen konnte …
    Eine weitere Brücke war geschlagen worden. Besser gesagt waren in gewisser Weise alle Brücken geschlagen worden. Was für ein großer Abstand lag dazwischen … Vielleicht hätte ich in den dazwischenliegenden Jahren die Möglichkeit ergreifen können, Niso zu begegnen. Doch ich hatte nicht die Kraft gehabt, mich darum zu bemühen. Wie hätte ich mich denn bemühen können … Ich war nicht mal in der Lage gewesen, mich selbst zu sehen. Neli hatte damals einen Virus erwischt und unfassbar schnell abzunehmen begonnen. Ich weiß nicht, ob eine Behandlung hier möglich gewesen wäre. Doch Çela meinte, wir müßten unbedingt nach Israel fahren. Da auch der hier behandelnde Arzt sie unterstützte, konnte ich natürlich nichts dagegen einwenden. Wir hatten auch gar keine Zeit für solche Auseinandersetzungen. Sonst verloren wir unser Kind. Was waren das für schlimme Tage! Wir blieben fast zwei Monate dort. Bei der Rückkehr waren wir ganz andere Menschen, voller Freude, so als wären wir einem Krieg entronnen und könnten einander von neuem umarmen. Damals verstand ich das Leben besser. Später traten keine weiteren Komplikationen auf. So hatten wir also auch das erleben müssen. Um die Liebe noch stärker zu spüren … Damals war ich Niso räumlich ganz nahe gewesen. In gleicher Weise galt das auch für Şeli. Ich wußte, daß sie damals ebenfalls dort lebte. Doch irgendwie fühlte ich mich Niso gegenüber schuldiger, weil ich ihn nicht kontaktierte, denn ich dachte daran, wieviel ich einst mit ihm geteilt hatte. Ich fand nicht die Kraft anzurufen. Manchmal konnte sich der Mensch nicht einmal dazu aufraffen, die liebsten, nächsten Menschen zu sehen. Wir waren getrennt, irgendwie getrennt.
    Ohne Zeit zu verlieren, antwortete ich sofort. Ich bedankte mich bei Niso, daß er sich getraut hatte, mir einen Aspekt seines Lebens mitzuteilen, wenn auch im Internet, ich gab ihm meine Telefonnummer und sagte, ich erwarte ungeduldig seine Ankunft in Istanbul. In seiner unmittelbar folgenden Antwort schrieb er, er versuche, sich an seine Repliken in dem Stück zu erinnern … Er war dermaßen begeistert. Schreiben war wie sprechen. Er sagte, was ihm einfiel … Jedenfalls galt das für jene Tage. Für jenen Abschnitt unseres Lebens …
    In den darauffolgenden Tagen schrieben wir uns nicht. Wir beide waren wohl der Meinung, daß wir das Weitere bis zu unserer Begegnung aufsparen wollten. Ich fand es deshalb unnötig, mich zu bemühen.
    Für eine Weile kümmerte ich mich um meine Arbeit, versuchte, mich dem Ablauf des alltäglichen Lebens zu überlassen, und schaute, ein wenig von Nisos Worten in seiner letzten Mail beeinflußt, das Stück aufs neue durch. Ich las sowohl seine Repliken, an die er sich zu erinnern versucht hatte, und noch aufmerksamer las ich meinen eigenen Part … Ich machte mir auch ein paar weitere Notizen …
    Dazwischen rief ich Şeli an. Ich sagte ihr, daß die Adresse, die sie mir gegeben hatte, mir geholfen hatte, Niso zu finden, und las ihr vor, was wir geschrieben hatten. Ich wollte, daß sie wußte, was passiert war. Sie hörte geduldig zu, ohne mich zu unterbrechen oder Kommentare abzugeben. Mir schien, als lausche sie wieder mit leichtem Lächeln. Der Ton ihres Kommentars, den sie anschließend abgab, verstärkte meinen Eindruck, doch mir war, als wolle sie mich auf einen weiteren Punkt aufmerksam machen.
    »Er hat nur wenig von dem erzählt, was er eigentlich hätte erzählen müssen …«
    In dieser Stimme lag ein ähnliches Zittern wie bei unserem Gespräch an jenem Abend. Ein Zittern, das durch das Verheimlichen einer Tatsache verursacht wurde, durch den vergeblichen Versuch, davon zu erzählen … Es gab so viele Möglichkeiten … Erwartete sie etwa, daß ich fragte, was sie sagen wollte? … Vielleicht erwartete sie das. Doch wenn es wirklich etwas zu erzählen gab, etwas, das man erzählen mußte, wollte ich das im dunkeln Gebliebene nicht von ihr erfahren, sondern von dem eigentlichen Helden der Erzählung, von Niso. Meine Antwort sollte diese meine Meinung ausdrücken.
    »Zweifellos ist es so … Wenn er kommt, werden wir sowieso

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