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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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vielleicht weil sie von jenseits einer Grenze, aus einer inneren Welt, kamen. Ein bißchen auf türkisch, ein bißchen auf französisch … Diese Regungen waren zweifellos einzelne Zeichen. Das wichtigste aber war, daß sie Bilder malte. Auch ich mußte mich an das halten, was sie mit diesen zaghaften Schritten ausdrücken wollte. Ich hatte keine andere Wahl. Zwischendurch hielt ich an und kaufte einer alten Zigeunerin am Straßenrand einen Strauß Feldblumen ab. Wobei ich nicht feilschte. Wieder ihr zuliebe … Denn sie wäre sehr böse geworden, wenn ich um Feldblumen gefeilscht hätte. Dann erinnerte ich mich plötzlich an ein Detail, das ich vergessen zu haben glaubte. Meine stärkste Waffe war in meiner Jackentasche. Jener Ohrring … Würde ich ihr den Ohrring dieses Mal geben, würde ich endlich sagen können, daß ich gekommen sei, ihr den Ohrring zu geben? … Diese Frage konnte ich in dem Moment nicht beantworten …
    Ich trat in jenen Garten mit der Kraft, die mir dieses Gefühl und diese geheime Waffe gaben. Waffe … Warum sagte ich denn Waffe? … Wo ich doch Waffen ablehnte. Ich wollte mich wohl verteidigen gegen jemanden, den ich nicht kannte und nicht sah, gegen einen Verlust, einen Fluch, eine Niederlage oder sogar gegen mich selbst. Dieses Mal fand ich ihre Station noch leichter. Ich sprach mit der Oberschwester. Sie sagte, sie sei sehr erfreut, daß ich wieder gekommen sei. Sie lud mich zunächst zu einem Tee ein. Ich lehnte nicht ab. Ich mußte mich sowieso auf die erneute Begegnung vorbereiten. Während ich Tee trank, sprachen wir über das, was man in so einer Umgebung sprechen konnte. Es gab gute Nachrichten. Şebnem hatte in den Tagen seit meinem letzten Besuch zwei weitere Bilder gemalt. Sie arbeitete emsig. Wir konnten zu ihr in die Werkstatt gehen. Die Oberschwester sagte auch, ich hätte gut daran getan, Blumen mitzubringen. Was ich hörte, steigerte natürlich meine Aufregung. Ich konnte diese Aufregung nun nicht mehr unterdrücken, sosehr ich wollte und mich bemühte. Es war auch sinnlos, in solch einer Umgebung sich zu verstellen, wo in so vielfältiger Weise Dinge jenseits der Grenze ausgelebt wurden. Dann brachte mich die Oberschwester in die Werkstatt und ließ mich dort mit ihr allein. Ich versuchte, in einen weiteren Raum zu gelangen. Wieder ohne zu wissen, wieweit dieser Raum mich aufnehmen würde … Es sah aus, als sei sie sehr intensiv mit ihrem Bild beschäftigt. Ich näherte mich, wobei ich möglichst wenig Geräusche machte. Ich nahm mir einen Hocker und setzte mich neben sie. Ich beobachtete, wie sie malte, und ihre Augen, ihre Hände. Ich versuchte jede Bewegung in ihrem Gesicht, ihrem Körper zu sehen und zu verstehen. Sie schien mich nicht bemerkt zu haben.
    Die Blumen lagen auf meinem Schoß. In der Mitte ihres Bildes verlief ein steiniger Erdweg. Nur ein Weg … Die Gegend drum herum war leer, verlassen, wahrscheinlich auch weit entfernt … Das war es, was ich sehen konnte. So saßen wir eine Weile still, schweigend. Dann fragte ich sie, wohin der Weg führe. Sie reagierte nicht. War sie wieder an einem jener Punkte, von denen sie nicht leicht zurückkehren konnte? … Sie schien mich nicht gehört zu haben. Und wenn sie mich doch gehört hatte, tat sie wohl so, als wenn nicht. Ich ging einen weiteren Schritt in der Hoffnung, eher Gehör zu finden. Indem ich riskierte, wieder in eine Leere oder ein Dunkel hineinzusprechen … Meine Stimme zitterte. Genauso wie mein Inneres … Kann man sein inneres Zittern, wenn man will, spürbar machen? … Ich wollte gehört werden. Wollte glauben, daß ich in dem Moment gehört werden konnte … Um mich noch mehr öffnen zu können … Worte … Wie sehr konnte man mit Worten die Hand eines Menschen halten? … Ich versuchte es, versuchte es noch einmal …
    »Das ist ein sehr verlassener Weg … Aber ohne Gefahr … Vielleicht ist er gefahrlos, weil er so verlassen ist …«
    Dieses Mal schaute sie auf. Sie lächelte. Dieses Lächeln konnte ich in vielfältiger Weise deuten. Hatte sie wirklich reagiert, oder war es ein fernes Abbild? … In der Hoffnung, sie könnte verstehen, streckte ich ihr die Blumen hin und fuhr im gleichen Tonfall fort.
    »Erinnerst du dich? … Du hast Feldblumen immer sehr gemocht. Du hast gesagt, das sind echte Blumen. Lebendige Blumen …«
    Sie lächelte weiter, legte den Pinsel weg und berührte die Blumen zart. Als wollte sie sie begreifen … Indem sie sie streichelte … Scheu … Mit der Zartheit

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