Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
antworten. Gerade als ich mich schon so fürchterlich gelangweilt hatte, daß ich mir eine neue Arbeit suchen wollte, kam mir Deine Mail zu Hilfe. Was für ein Zufall aber auch! Du wirst es nicht glauben, aber ich habe mich dieser Tage darauf vorbereitet, nach Istanbul zu kommen. Überdies nach so langer Zeit … Seit ich hierhergekommen bin, habe ich irgendwie nie in meine Geburtsstadt fahren können, obwohl ich das sehr gewünscht hätte. Ich sehne mich dermaßen nach Istanbul. In den ersten Jahren habe ich sogar davon geträumt. Ich habe mich in Kavaklar Steinbutt essen und Raki trinken gesehen, habe in Caddebostan ein Boot genommen, bin an der freien Stelle vor der Disco 33 im Meer geschwommen, bin durch Elmadağ gebummelt. Natürlich wart ihr auch dabei. Manchmal war ich auch allein. Ich war verwirrt von dem, was ich erlebt hatte, und habe mich gefragt, wie ich eigentlich nach Israel gekommen bin. Dann habe ich mich daran gewöhnt. Die Straßen von Istanbul verwischten sich, andere Straßen traten in mein Leben. Das wichtigste ist, ich habe mich hier sogar ans Rakitrinken gewöhnt. Ich habe mir immer gesagt, noch ein bißchen, es muß noch ein bißchen Zeit vergehen, ich muß überzeugt sein, daß ich mir wirklich ein neues Leben geschaffen habe, dann kehre ich eines Tages zurück. So wie unsere Arbeiter in Deutschland, die immer sagen, ich will mit einem Mercedes zurückkehren, damit sie meinen Erfolg sehen … Der Unterschied ist, daß ich mit einem Leben zurückkehren wollte. So ist die Zeit halt vergangen. Ich habe mich mit denen begnügt, die aus Istanbul hierhergekommen sind. Auch die Parabolantenne, die ich mir auf meinem Haus habe installieren lassen, hat mir sehr geholfen. Ich weiß also, was in meiner Heimat los ist. Freilich, dort zu sein ist etwas anderes. Doch wie Du siehst, habe ich, obwohl ich hier lebe, nicht alle Verbindungen gekappt. Ich habe erkannt, was es bedeutet, Nomade zu sein. Ich habe neue Menschen kennengelernt und habe mit Leuten, die wie ich aus verschiedenen Ländern mit anderen Erinnerungen gekommen sind, manchmal sehr schöne Zusammenkünfte erlebt. Doch eine Seite von mir ist immer bei euch geblieben. Wenn Du erfährst, was ich alles gemacht habe, wirst Du mir recht geben.
Nun dazu, warum ich nach all der Zeit nach Istanbul zurückkehre, warum ich mich entschlossen habe, zumindest für eine Weile zurückzukehren … Meine Mutter ist sehr krank, Isi. Weißt Du, was Alzheimer ist? … Es ist eine schlimme, ganz schlimme Krankheit. Ohne daß man es merkt, blamiert man sich mit jedem Tag ein wenig mehr. Für die Mitmenschen ist die Lage jedoch noch schlimmer. Denn sie sehen es ja. Wer das nicht erlebt hat, kann es sich nicht vorstellen. Früher haben meine Eltern mich oft besucht. Bei ihrem letzten Besuch hier vor einem Jahr wurde die Diagnose gestellt. Wir haben sehr gute Spezialisten dafür. Doch auch sie konnten den Verlauf nicht aufhalten, konnten nichts dagegen tun. Die Krankheit ist rasch fortgeschritten. Mein Vater ist inzwischen ebenfalls sehr alt. Für sein Alter ist sein Gesundheitszustand nicht schlecht, doch er hat viel Kraft verloren. Sie haben nur sich selbst und sonst niemanden. Nun leben sie seit fast sechzig Jahren zusammen. Beide zusammen sind über hundertfünfzig Jahre alt. Zwar wohnen sie in unserem Altenheim und befinden sich insoweit in Sicherheit. Sie werden gut versorgt. Doch Du weißt, ich bin ihr einziges Kind. Nun ja, wir haben damals viele Auseinandersetzungen gehabt, uns gestritten, doch ich habe nun auch ein gewisses Alter erreicht. Wie lange können wir uns noch davon überzeugen, daß wir im Inneren, im Herzen, jung geblieben sind … Tatsache ist, daß man sich an einem Punkt auf dem Weg für immer trennen muß. Deswegen will ich eine Zeitlang bei ihnen bleiben. Man weiß nie, wann das Ende kommt. Mein Vater hat mir einen Platz besorgt, wo ich wohnen kann. Ein Zimmer hinter der havra auf der Insel. Er hofft wohl noch immer, ich könnte den richtigen Weg finden! … Nun gut … Spaß beiseite! Das hat die Sache erleichtert. Ich habe sowieso gelernt, überall zu übernachten, mich anzupassen. Gut, daß er jahrelang in der Gemeinde gearbeitet hat. Deswegen war es auch leicht, das Zimmer zu finden, in dem sie jetzt wohnen …
Ich sage ja, ich werde für eine Weile kommen, anderthalb oder höchstens zwei Monate kann ich bleiben. Aus den vergangenen Jahren habe ich noch aufgesparten Urlaub. Auf diesen langen Urlaub habe ich sehr gewartet. Ich hatte
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