Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
ja … Doch es war etwas anderes … Man muß es nicht unbedingt mit Namen bezeichnen … Bald danach bin ich sowieso schrecklich auf eine Frau abgefahren. Das war eine richtige Leidenschaft. Eine richtige, leidenschaftliche, echte Liebe mit allem Drum und Dran … Mit ihr habe ich sechs Jahre zusammengelebt. Fast hätten wir geheiratet, hätten ein Kind gehabt …«
Er unterbrach sich. Es war deutlich, daß die Erinnerung ihn schmerzte. Er rauchte weiter. Auch ich rauchte. Ich wußte nicht, die wievielte Zigarette das inzwischen war. Wir hatten längst aufgehört zu zählen, der Kellner hatte unsere Aschenbecher ein paarmal ausgetauscht. Außerdem waren wir beide nicht drauf aus, Berechnungen anzustellen … Wir wollten bei keinem Thema mehr Berechnungen anstellen … Bei keinem Thema … Wir bewegten uns erneut in unserer Geschichte, um uns selbst und einander besser zu erkennen. Um zu verstehen und erzählen zu können … In der Hoffnung, unsere Leben in den Griff bekommen zu können … Um von meinen Gefühlen das zu erzählen, was sich erzählen ließ. Ich war überzeugt, auch er würde das tun. Er hatte schon damit angefangen. Ich berührte seine Schulter und sagte, wir sollten aufstehen und ein wenig laufen, doch er hörte mich nicht, sondern redete weiter. Seine Stimme verriet, wie notwendig es für ihn war, mir auch diese Erzählung mitzuteilen.
»Das Mädel war aus Marokko … Sie hat auch meine Eltern kennengelernt. Diese haben sie mit ihrem geringen Französischwortschatz herzlich willkommen geheißen. Sie war eine Filmemacherin, drehte Dokumentarfilme. Ein-, zweimal haben wir auch zusammengearbeitet. Das hat gut geklappt … Aber wir haben halt einen Fehler gemacht …«
In diesem Moment fiel mir die Bemerkung ein, die Şeli über dieses Mädchen gemacht hatte. Wir waren nun wohl auf der Spur einer Protagonistin der Erzählung, über die man unbedingt reden mußte. Würde mich Niso einweihen? … Ohne einen Versuch konnte ich das nicht wissen. Ich versuchte es also. Dabei verließ ich mich auf den Spaß, einige Hinweise auf sein Leben zu besitzen … Woher hätte ich denn wissen sollen, daß ich an die Tür einer anderen Erzählung klopfte. Daß ich unerwartet eine Verbindung herstellen und erneut sehr erstaunt sein würde …
»Şeli hat von ihr gesprochen … Doch sie hat gesagt, sie sei aus Tunesien …«
Er lächelte. Auf meine Worte hin schaute er ein bißchen aufgeregt. Ich kannte natürlich seine Aufgeregtheit, die Arten seiner Aufgeregtheit. Diese Aufregung war anders als die bisherigen, sie schien darauf hinzuweisen, daß nun etwas sehr Verborgenes, eine Tatsache, die man gut versteckt halten wollte, ans Licht kommen würde. Als versteckte sich hinter dieser Aufregung eine Schuld. Ich wurde nämlich mit einer Frage konfrontiert. Einer Frage, die einfach aussah, die mir in jenem Moment jedoch bedeutungsvoll erschien. Mit einer Frage, die auszudrücken schien, hier müßte etwas geschützt werden … Auch dieses Mal erweckte der Ton seiner Frage das Gefühl in mir.
»Was hat sie sonst noch erzählt?«
Für mich war nun der kürzeste und einzig mögliche Weg, ihn ein wenig zu zwingen, indem ich kurz und knapp sagte, was ich wußte, und insbesondere formulierte, was ich nicht verstanden hatte. Ich war in dem Moment ganz überzeugt davon, daß ich auf diese Weise Şelis Enttäuschung und ihre Wut auf ihn endlich verstehen würde … Zweifellos war diese Überzeugung durch die Frage und ihren Ton entstanden. Vielleicht täuschte ich mich. Es war nicht weiter wichtig. Im schlimmsten Fall hätte ich ihn nur ein wenig unter Druck gesetzt.
»Ich habe ihr deine Mail vorgelesen. Zuerst reagierte sie ein wenig schweigsam. Dann sagte sie, du hättest nicht alles erzählt. Sie ist dir wohl ein bißchen böse …«
Er zündete sich eine neue Zigarette an. Sein Ton wurde deutlicher.
»Was sie sagt, das stimmt … Sie hat auch recht, böse zu sein …«
Diese Worte kündigten offenbar an, daß ein anderer Aspekt in die Erzählung geriet. Die Aufregung sprang auf mich über. Ja, wir näherten uns einem Punkt, den ich überhaupt nicht erwartet hatte.
»Sie erlebte mit ihrem Mann damals eine schlimme Zeit. Einmal rief sie mich an und sagte, sie wolle mit mir reden, sich mit mir aussprechen. Sie kam nach Haifa, wir trafen uns in einem Café. Ora war wegen Dokumentaraufnahmen nach Nazareth gefahren. Danach sind wir zu mir nach Hause gegangen. Die Ereignisse entwickelten sich rasch. Ein jeder stellt seine
Weitere Kostenlose Bücher