Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
Vom Netzwerk:
Grenze bringen … Nun machte ich den Fehler schon zum zweiten Mal … Ich öffnete langsam die Augen und drehte ihr mein Gesicht zu, wobei ich auf jede mögliche Reaktion vorbereitet war. Sie konnte mich wegschicken, sich schnell wieder von mir entfernen, ohne auch nur ein Wort zu sagen, schluchzend weinen, sogar mich ohrfeigen, durchschütteln … Von dem her, was ich erlebt hatte und wußte, konnte ich nur dies erwarten. Doch … Doch nichts dergleichen geschah. Sie schaute mich mit einem sanften, warmen Lächeln an, mit einer Liebe, die aus großer Tiefe zu kommen schien … Auf dem Weg, den ich blindlings zu gehen versuchte, war ich wieder in der Situation eines verwirrten Menschen, der nicht wußte, was er wie verstehen sollte … Ich wußte nicht, waren das die Blicke einer früheren Geliebten, die trotz allem, was vorgefallen war, nach Jahren bereit war, alle Kränkungen zu vergessen? Waren es die Blicke einer Freundin, die trotz aller Entfernung ihre Liebe nicht verloren hatte und mit Herz und Seele immer bei mir geblieben war? Oder die einer älteren Schwester, die immer versuchte, mir beizustehen? Das mußte ich vielleicht auch gar nicht wissen. Als sie meine Verwirrung sah, lächelte sie noch stärker und legte ihre Hand an meine Wange. Mit ihrer zitternden Stimme versuchte sie zu sagen, was sie fühlte:
    »Wie gut, daß du gekommen bist … Wie gut, daß du gekommen bist …«
    Ich spürte, sie war jetzt dem Leben, zu dem ich sie gerufen hatte, sehr nahe. In dem, was meine Gefühle mich sagen ließen, lag nun die Aufregung über eine Begegnung, von der ich so lange geträumt hatte.
    »Wie gut, daß auch du gekommen bist … Sei willkommen …« Wieder lächelnd schüttelte sie den Kopf, als wollte sie erneut aus einer aus der Tiefe kommenden Zerschlagenheit heraus Einspruch erheben. Wollte sie sagen, sie könne noch nicht zurückkehren, sie sei noch nicht bereit dazu? … Ich wußte es nicht. Wenn ich das besser verstehen wollte, blieb nur eins zu tun. Ich steckte die Hand in die Jackentasche, holte den Ohrring hervor und zeigte ihn ihr. Der Ohrring lag in meiner Hand. Er wartete darauf, erkannt zu werden. Ich versuchte zu lächeln. Die Worte, die ein erneuter Appell waren, kamen mir wie von selbst auf die Zunge.
    »Ich habe diesen Ohrring immer aufbewahrt … So wie du es wolltest … Erinnerst du dich? …«
    Weiter kam ich nicht … Ich hatte gezeigt, was ich zeigen konnte, und gesagt, was ich sagen konnte. Jedenfalls für diesen Augenblick … Für diesen unendlichen Augenblick … Sie schaute auf den Ohrring, berührte ihn mit der Spitze ihres Zeigefingers … Es war eine leichte, zaghafte Berührung … Und danach … Danach fing sie plötzlich zu weinen an. Sie weinte lauthals, schluchzend … Ich rückte ein wenig näher, hielt den Ohrring fest in der Hand und nahm sie wieder besorgt in die Arme. Sie schmiegte sich an. Auch sie umarmte mich, wobei sie weiterweinte … Mit weinerlicher Stimme flüsterte sie mir ins Ohr:
    »Ich friere … Ich friere innerlich … Mich friert bis ins Mark …«
    Meine Worte kamen wieder von selbst, irgendwo aus mir, aus meinen Tiefen …
    »Von nun an wirst du nicht mehr frieren … Ich lasse dich nicht mehr los …«
    Würde ich sie wirklich nicht mehr loslassen? … Wie haltbar, zuverlässig, glaubwürdig war die Brücke, die ich zu ihr hin geschlagen hatte? … In dem Moment konnte ich mich mit dieser Frage nicht auseinandersetzen … In dem Moment konnte ich nicht anders, als sie mich mit meinem ganzen Wesen spüren zu lassen. Wir blieben eine Weile so. Ich fragte mich, was die Zeit uns noch alles zeigen würde, doch ich konnte nicht darauf antworten, wollte das nicht beantworten. Nur so konnte ich an den Zauber glauben, einen Moment bis zum Ende auszuleben. Dann lösten wir uns voneinander und saßen eine Weile zusammen, ohne zu sprechen. Bis sie mit ihrer zitternden Stimme unser Schweigen beendete … Ihre Worte zeigten mit einer anderen Offenheit, wo wir uns befanden.
    »Mich friert … Bring mich in mein Zimmer …«
    Eigentlich war es ein sonniger, warmer Tag. Aber das zu sagen, war nicht sinnvoll und nötig. Wir standen auf und gingen langsam auf die Station zurück. Ich brachte sie in ihr Zimmer. Sie setzte sich aufs Bett, so als wäre es ihr lieber, allein zu sein. Wenn sie etwas gesagt hätte, wäre ich noch geblieben, doch sie wollte wohl lieber für sich sein. Als ich sagte, ich müsse gehen, erhob sie keinen Einwand. Ich nahm ihre Hand und legte ihr

Weitere Kostenlose Bücher