Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
den Ohrring in die Handfläche. Ich sagte, was ich sagen konnte:
»Auf diesen Augenblick habe ich all die Jahre gewartet … Was du mir anvertraut hattest, war unsere Erinnerung … Der Mensch kann mit so einer Last nicht sterben …«
Dieses Mal nickte sie wieder wortlos, als wollte sie ausdrücken, sie habe meine Worte verstanden. Hatte sie verstanden? … Hatte ich mich mitteilen können? … Das war mir egal. Ich wußte jedenfalls, daß die Zeit das Nötige zeigen würde … Ich küßte sie noch einmal auf die Wange und ging langsam zur Tür. Ehe ich hinausging, sagte ich die letzten Worte, die ich an jenem Tag sagen konnte:
»Ich komme ganz bald wieder … Dann habe ich eine Überraschung für dich, halt dich fest …«
Sie schaute lächelnd. Es war, als zeigten sich die Neugier, Naivität und Freude eines kleinen Mädchens in ihrem Gesicht. Mir war bewußt, diese Freude kam aus einem bitteren, tiefen Leid, deswegen war sie mehr als berechtigt. So blinzelte ich ihr verführerisch zu, weil ich sie lächelnd meine Liebe spüren lassen wollte, und zugleich hoffte, ich könnte sie ihre Weiblichkeit fühlen lassen. Dann legte ich den Zeigefinger auf die Lippen, als wollte ich sagen, sei still und warte ab. Dieses Mal kicherte sie. Mein komisches Talent zeigte die nötige Wirkung. Doch gab es für sie noch eine Überraschung? … Das konnte ich nicht wissen. Für mich zumindest gab es noch eine. Ich glaubte an diese Überraschung, aus ganzem Herzen. Die Überraschung war zudem nicht bloß für die Erzählung dieses ›Spiels‹, sondern für mein Leben notwendig. Auf diese Weise würde ich den Ort, an dem ich mich befand, ein wenig besser erkennen können …
Wie immer wollte ich vor dem Verlassen der Station auch Zafer Bey meine Gefühle eröffnen. Ich wollte diese jüngste Entwicklung ebenfalls erzählen. Doch an jenem Tag war er nicht gekommen. Weil ich nicht berichten konnte, hieß dies für mich, den Tag nicht vollständig zu erleben, besser gesagt, unvollständig zu erleben. Es gab Abhilfe. Ich hatte schon früher seine Telefonnummer bekommen. Ich wußte, ich konnte ihn jederzeit anrufen. Ich ging hinaus. In mir war eine traurige Freude. Doch von dieser Freude zu sprechen, sie mitzuteilen, war nun gar nicht mehr so leicht. Insbesondere mit Çela würde ich meine Gefühle überhaupt nicht teilen können. Deswegen verschob ich das auf später. Ich rief Necmi an, der sagte, er käme in ein paar Tagen nach Istanbul zurück. Wenn er zurück sei, würden wir uns auf jeden Fall treffen und reden. Seine Stimme machte den Eindruck, als wollte er mit mir etwas Wichtiges besprechen. Ich war mir sicher, auch er hörte meiner Stimme an, daß ich mit ihm etwas zu besprechen hatte. Dabei beließen wir es. Wir hatten längst gelernt, Geduld zu haben. Und keine unzeitigen Fragen zu stellen, nicht einmal allzu erstaunt zu sein … Aber in Wirklichkeit war ich doch sehr gespannt, wie er meine Erlebnisse aufnehmen würde. Ich wollte sein Gesicht sehen, wenn er zuhörte. Inzwischen hoffte ich sehr, Şebnem zu jener Einladung mitzubringen. Aber ich wollte diese Hoffnung und die Möglichkeit mit Zafer Bey besprechen, und wenn es am Telefon war. Es war genau der richtige Zeitpunkt, ihm den Ball zuzuspielen. Ich erzählte ihm lang und breit das Vorgefallene, wobei ich mich bemühte, keine Einzelheit auszulassen. Es interessierte ihn, und zwar sehr. Sein langes Zuhören fiel nicht unter jenes wohlbekannte professionelle Verhalten, das mich immer so sehr störte, doch seine Antwort spiegelte die Haltung eines distanzierten Arztes wider. Trotz all seines guten Willens und seiner Hilfsbereitschaft … Der Fortschritt sei sehr wichtig, unübersehbar. Dennoch dürfe man die Besonnenheit nicht verlieren … Natürlich war diese Antwort nicht ausreichend für mich. Ich erwartete eine viel wärmere und begeistertere Bestätigung. Ich wagte es, dringlicher zu fragen, indem ich jene Frage stellte, die ich schon früher gestellt hatte … Ob man diese Entwicklung als ›wesentlich‹ ansehen könne … Er schwieg eine Weile. Ich vermute, er verstand, worauf es in seiner Antwort ankam. Er antwortete geradeheraus.
»Ja … Es ist zwar möglich, daß der Zustand nicht stabil bleibt. Wir können einen erneuten Rückzug erleben. Außerdem ist nicht leicht vorherzusehen, wohin so eine Öffnung führt. Doch dies ist eine wichtige Entwicklung. So wie wir sie haben wollten …«
Ich freute mich. So sehr, daß ich nicht gleich antworten konnte …
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