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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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es natürlich nicht vergessen. Es war die Bank, auf der wir in diesem Garten bei meinem ersten Besuch miteinander gesessen hatten. Wie anders war jedoch inzwischen das, was wir erlebten. Ich ging langsam und möglichst leise zu ihr hin und setzte mich. Sie wirkte wieder wie in weiten Fernen versunken. Zwar reagierte sie nicht, doch war ich mir sicher, daß sie mich bemerkte. Das sagte mir wieder meine innere Stimme, der ich sehr vertraute. Diese Stimme sagte mir, ich solle mich bemerkbar machen. Ich verlor keine Zeit.
    »Guten Morgen … Was ist das denn für eine Gastfreundschaft … Man sagt doch zumindest einen Willkommensgruß! …«
    Sie wendete ihr Gesicht. Sie schaute wieder mit jenem erfrorenen Lächeln, an das ich mich inzwischen gewöhnt hatte, das ich anfangs sehr erschreckend gefunden hatte. Mit jenem Lächeln, das die vielen Gesichter und Stimmen des Abgrunds umschloß, der Finsternis, in die sie gefallen war … Doch ich konnte in ihren Augen auch ihre Liebe sehen, ihre Angst, ihre Not, ihr Leid, ihre Enttäuschung und auch ihre Einsamkeit … Ich berührte sie noch einmal. Noch ein Mal … Um aller Abschiede und Rückkehren willen … Ich konnte nicht an mich halten und küßte sie auf die Wange. Sie lächelte noch ein wenig mehr. Doch das war alles, für diesen Augenblick war es genug. Sie wendete ihr Gesicht ab und kehrte wieder in jene Ferne zurück, zumindest schien es so. Vielleicht würde sie am Ende ganz dort bleiben. Daraufhin versuchte auch ich, mich in mich selbst zu versenken. Ich sagte mir, das, was ich als erstes sehen würde, nachdem ich die Augen geschlossen hätte, wären die treffendsten Bilder. Da trat mir noch einmal der Moment vor Augen, als das junge Mädchen an jenem fernen Abend in Tarabya davon gesprochen hatte, sie habe das Gefühl, von einem Sturm erfaßt und zu einer namenlosen Katastrophe gerufen zu werden. Dieses Mädchen saß Jahre später wieder neben mir … Es schien, als wäre inzwischen nicht derart viel Zeit vergangen, sondern nur einige Augenblicke, ein paar lautlose Augenblicke. Was für tiefe Eindrücke hatte das, was ich damals erlebt hatte, in meinem Leben hinterlassen … Jener Abend … Hätte ich an jenem Abend um jenes Lebens willen einen Schritt auf sie zu getan, hätte ich ihn tun können, hätten wir dann das alles erlebt? … Meine Augen waren noch immer geschlossen … Fast begann ich zu weinen … Ich fühlte mich sehr schwach und schutzlos … Ja, kraftlos, schutzlos und ausgeliefert … Doch ich war ich selbst … Endlich war ich ich selbst. Ich begegnete ihr in aller Echtheit. Mit all meinen Schwächen, verpaßten Gelegenheiten und Blößen … Vielleicht hatte ich auch jahrelang auf diesen Augenblick gewartet, ohne es zu merken … Konnte es sein, daß ich bei dem Versuch, sie in dieses Leben, in mein gelebtes Leben zurückzuholen, mich auch selbst aus einem Schlaf aufwecken wollte, aus einem Schlaf, zu dem ich mich ein wenig auch absichtlich hingelegt haben mochte? … Wollte ich, indem ich ihr Erwachen bewirkte, zusammen mit ihr ins Leben zurückkehren? … Jene Berührung, jener leichte Kuß, um sie aufzuwecken … Vielleicht war die Stimme, die mich nachdrücklich zu ihr, in ihre Finsternis, zog, die Stimme, die mich zur Aussöhnung mit der Finsternis in meiner Vergangenheit rief. Ich befand mich in einem der Momente, wo sich Freude und Leid vermischten, die den Menschen dieselbe Erregung wie in der Ekstase erleben ließen. Dies war ein Moment der Begeisterung. Es war ein leidenschaftlicher Moment, der den Menschen sagen ließ: Ich lebe! … Ich konnte es mir nur so sagen, klarmachen. Ja, ich war in meine Fernen gegangen … Ich erinnere mich nicht, wie lange ich dort mit ihr so blieb, ohne zu sprechen. Vielleicht waren es zehn, vielleicht fünfzehn Minuten, vielleicht aber auch nur wenige Augenblicke … Doch diese erschienen mir wie Stunden. Meine innere Stimme verlangte dieses Mal von mir, daß ich meine Gefühle, ausgehend von jenem Schmerz, in Worte faßte. Der Schmerz brannte wie jeder echte Schmerz …
    »Ich habe dich ins Feuer geworfen … Verzeih mir …«
    Heutzutage kann ich besser verstehen, warum ich ihr mein Gefühl im Bild eines brennenden Schmerzes mitteilen wollte. Es gab in meiner Vorgeschichte so viele Erinnerungen, die mit Feuer zu tun hatten. Doch kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, da bedauerte ich sie schon sehr. Mir fiel ein, woran das Feuer sie erinnern mochte. Dieses Wort konnte sie noch einmal an diese sensible

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