Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Anders konnte ich mir nicht erklären, daß er sich langsam und möglichst unbemerkt aus dem Zimmer zurückzog. Die Zweisamkeit, in der er uns zurückließ, war für mich um so entspannter. Was Şebnem empfand, konnte ich nicht genau ergründen, aber zumindest faßte ich Hoffnung, daß wir beide so ein paar Schritte aufeinander zu und zu den gemeinsam erlebten Tagen hin tun konnten. Wir schwiegen. In dem Moment, als Zafer Bey aus dem Zimmer gegangen war, waren auch wir aus dem ›Spiel‹ ausgestiegen. Dennoch konnten wir weitermachen … Unser Spiel mußte weitergehen … Ich nahm meine Hände von ihren Schultern. Sie war neben mir. Sie schaute auf die Strickweste in ihrem Schoß, die sie nun wieder festhielt. Es war an der Zeit, etwas zu sagen, zu fragen. Wieder versuchte ich, blindlings meinen Weg zu ihr zu finden.
»Willst du diese Weste anziehen, liebe Şebnem? … Sie steht dir sehr gut …«
Sie klammerte sich in kleinmädchenhafter Scheu und Naivität noch fester an die Weste, als hätte sie Angst, man wollte sie ihr wegnehmen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Wieder schüttelte sie den Kopf, als wollte sie protestieren. Erneut zeigte sie Widerstand gegen meine Worte. Mir wurde bewußt, daß ich dieses Mal nicht richtiglag. Deshalb machte ich nicht weiter. Ich schwieg lieber eine Weile. Ich war mir sicher, daß diese Weste, die ich noch nie an ihr gesehen hatte, sie an eine ganz andere Szene erinnerte. Und auch, daß ich auf diesem Weg nur bis zu einem gewissen Punkt würde vordringen können … Wir setzten unser Schweigen fort … Ich hätte nun gehen können. Doch da ich nun schon einmal so weit mit ihr gekommen war, wollte ich mich nicht damit begnügen. Ich versuchte es noch einmal mit einer anderen Möglichkeit. Ich schaute lange auf das Bild, das an der Wand hinter uns hing. Ich sagte, daß ich den Weg doch beängstigend fand. Dieses Mal blieb sie nicht unbeteiligt, sondern nickte mit dem Kopf, als wollte sie meine Worte bestätigen. Nun mußte ich eine Frage stellen. Ich mußte fragen, noch einmal, um besser zu verstehen, sehen zu können … Fragen, soweit ich fragen konnte …
»Was hat es mit dem roten Fleck auf sich? …«
Ihre Lippen begannen leicht zu zittern. Als wäre sie an der Grenze zum Weinen. An einer Grenze zwischen einem schweigenden Protest und einem lauten Losschreien … Ohne mich anzuschauen, gab sie wieder in diesem klagenden Tonfall Antwort. Als riefe sie von weit her …
»Das kleine Mädchen ist verlorengegangen …«
Dieser Satz war bedeutungsvoll, und zwar sehr. Denn er erinnerte an das, was sie bei unserem vorherigen Gespräch gesagt hatte. Aber noch wichtiger war, daß sie sich erinnern wollte. Konnte ich sagen, daß sie nun endlich bestimmte Verbindungen herzustellen begonnen hatte? … Oder war ich es, der diese Verbindungen auf seine Weise knüpfte, zu knüpfen versuchte? … Diese Zwangsvorstellung von dem kleinen Mädchen war zweifellos sehr wichtig. Wer war das kleine Mädchen? … Sie selbst? … Ihre Tochter, die die Flammen verschlungen hatten? … Oder eine Märchenheldin, die ich vielleicht niemals kennenlernen würde und die sie an ihre für immer verlorene Tochter erinnerte? … Ich versuchte zu verstehen. Indem ich versuchte, sie möglichst fühlen zu lassen, daß wir uns am selben Punkt befanden …
»Ja, ich weiß, sie hat sich verlaufen … Sollen wir gehen, um sie zu suchen? …«
Sie schaute vor sich hin. Sie antwortete nicht. Auf ihrem Gesicht breitete sich Verärgerung aus. Dann stand sie auf, ließ die Weste auf dem Bett liegen und verließ eilig und ohne ein Wort das Zimmer. Ich blieb verwirrt und ratlos sitzen. Irgendwie konnte ich ihr nicht nachgehen. Wahrscheinlich spürte ich, daß es an jenem Tag für uns beide reichte. Zudem sagte mir meine innere Stimme, ich müsse ihr Recht auf Alleinsein respektieren. Ich blieb noch ein wenig sitzen. Dann erhob ich mich ebenfalls und ging ins Zimmer der Oberschwester. Sie sagte, Şebnem sei erregt nach draußen gegangen. Doch ich müsse mir keine Sorgen machen, das ginge vorbei, und später würde sie dann friedlich zurückkommen. So wie ich es verstand, wollte die Schwester zeigen, daß sie solche Fälle mit Leichtigkeit unter Kontrolle hatte. Sie konnte sich jedoch nicht enthalten zu fragen, was zwischen uns vorgefallen sei. Ich wollte gerade zu erzählen anfangen, als Zafer Bey hereinkam. Was er sagte, war wiederum ermutigend, ganz so, als brächte es uns alle zu neuen Möglichkeiten.
»Sie
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