Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
›Tochter‹ streichelte ihn über Arme und Rücken. Das war alles … Zumindest für diesen Moment war das alles … Das war alles, was ich sehen konnte und was sie einander und uns zeigen konnten … In ihren Blicken lag weder Zorn noch Gekränktheit. Es sah so aus, als seien allein liebevolle Blicke übriggeblieben. Und wahrscheinlich sahen sie mit ihren liebevollen Blicken nicht so sehr sich selbst, sondern die jungen Leute aus einer anderen Zeit. Woran wollten sie sich und einander erinnern? … Wen zu zeigen und zu spielen waren sie verpflichtet? … Die Antwort auf diese Frage kannten zweifellos vor allem sie selbst. Vielleicht wußten sie das selbst noch nicht so richtig. Ich sah lediglich das, was dort alle sehen konnten. Und ich hörte lediglich, was alle in solchen Situationen sagen konnten … Jene wohlbekannten, gewohnten, sinnentleerten Worte waren längst für andere Filme und Theaterstücke geschrieben worden. Sie hielten sich noch immer an den Händen. Der erste Schritt kam von Yorgos.
»Du siehst prima aus … sehr, sehr gut …«
Er lächelte weiter, doch schien es ihm immer schwerer zu fallen, dieses Lächeln durchzuhalten. Man konnte nicht sagen, daß Şelis Zustand sich sehr davon unterschied. Ich mußte mich nicht anstrengen, auch in ihrem Gesicht das bemühte Lächeln zu erkennen. Als sie sagte: »Auch du siehst ziemlich gut aus«, zitterte ihre Stimme leicht, doch das mußte man für natürlich, sogar für unvermeidlich halten. Daraufhin unternahm Yorgos einen weiteren Schritt. Ich hörte, daß das leichte Zittern nun auch seine Stimme erfaßt hatte.
»Wir sind aber auch alt geworden! … Schau uns mal an …«
Şelis Antwort lag bereit.
»Die Jahre sind vergangen, Junge … Wir konnten doch nicht immer gleichbleiben …«
Yorgos schüttelte den Kopf und schluckte, wobei er wieder versuchte, sich hinter diesem Lächeln wie hinter einer Maske zu verstecken. Wir beobachteten sie. Es war unmöglich, diese Szene weiter auszudehnen, aber genauso unmöglich war es, Necmi davon abzubringen, das zu bemerken … Im Vergleich zu vorher benahm er sich dieses Mal ein wenig ›wohlerzogener‹ …
»Hallo, Kumpel, paß mal auf! … Wir sind auch noch da! …«
Yorgos, die eine Hand auf Şelis Schulter, drehte sich, ohne den Gesichtsausdruck sehr zu verändern, nach der Stimme um und erkannte Necmi sofort, trotz Sonnenbrille, Gewichtszunahme und Haarausfall, kurz gesagt, trotz aller Veränderungen. Daraufhin breitete sich in seinem Gesicht eine viel echtere Freude aus. Diese Freude konnte man auch in seiner Stimme hören. In seinen Worten spiegelte sich jedoch außer dem Wissen aus viel früherer Zeit zudem das, was ich erzählt hatte.
»Necmi! … Der legendäre Kommunist Necmi! …«
Man konnte natürlich erwarten, daß sich der Angesprochene geehrt fühlte. Mit offenen Armen gingen sie fröhlich aufeinander zu. Dieses Mal schauten wir alle zu ihnen hin. Gerade als ich mir sagte: »Jetzt wird unser Alter gleich wieder eine Bombe platzen lassen«, zog eine andere Stimme die Aufmerksamkeit ganz plötzlich in eine andere Richtung.
»Nun mal langsam! … Hier gibt es nicht bloß einen Kommunisten! …«
Die Stimme kam von Niso. Plötzlich war er in unserer Mitte. Çela fühlte sich zu einer kleinen Erklärung veranlaßt.
»Ich war gerade dabei, dem Hausmeister den Müll zu geben. Da stand mir plötzlich ein Mann gegenüber, der nach dir fragte. Ich habe sofort gewußt, wer er ist. Wahrscheinlich hat auch er erkannt, wer ich bin …«
Nun waren alle versammelt. Auch Niso und Yorgos umarmten sich. Beide wirkten fremdartig, vielleicht, ich weiß nicht, weil sie beide seit Jahren fern von Istanbul gelebt hatten. Dann war Necmi an der Reihe. Auch die beiden umarmten sich. Angesichts dieser Szenen fühlte ich mich plötzlich wie in einem absurden Theaterstück, obwohl mir bewußt war, wie viele starke Emotionen in diesen Umarmungen steckten. Die Protagonisten begegnen sich, und sofort umarmen sie einander. Danach vollführen auch alle anderen der Reihe nach dieselbe Bewegung. Hätte ich nicht gewußt, was sie erlebt hatten, dann hätte ich fast gesagt, so sollte eigentlich ein gut gespielter Verfremdungseffekt aussehen. Immerhin gab es etwas, das hinter dem lag, was zu sehen war und gezeigt werden sollte. Und immerhin konnte ich in gewisser Weise dieses Verborgene sehen. Ich hatte mehr als andere die Fähigkeit, manche Zustände, Reaktionen und Blickwechsel zu entschlüsseln, zu interpretieren.
Weitere Kostenlose Bücher