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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Beispielsweise versteckte sich in der ebenso herzlich wie liebevoll aussehenden Umarmung von Şeli und Niso eine leichte Scham, die nur diejenigen bemerken, fühlen konnten, die wußten, was die beiden erlebt hatten. Şeli, die mich in dem Augenblick lächelnd ansah, drückte dieses Gefühl überdeutlich aus. Sie wußte, daß ich mit Niso ein langes Gespräch geführt hatte. Es war, als wollte sie herausfinden, ob dabei über das, was sie nicht erzählt hatte, gesprochen worden war. Sie hatte mich ja neugierig gemacht … Wahrscheinlich spürte sie, daß ich Bescheid wußte. Und ich tat alles, um mit meinen Blicken ihr Gefühl zu verstärken. Das alles vollzog sich während dieser sekundenkurzen Umarmung und dem gleichzeitigen Blickwechsel … Ich war nun ihrer beider Mitwisser. Sowohl Mitwisser ihrer Schuld als auch ihres Geheimnisses … Ich bin mir sicher, Niso merkte von alledem nichts. Schließlich waren die Frauen in geradezu furchterregendem Maße Meisterinnen darin, solche Geheimnisse zu sehen und mitzuteilen, während die Männer dermaßen schutzlos und ausgeliefert waren … Yorgos aber, den man unbedingt von diesem Geheimnis fernhalten mußte, war unterdessen auf Şebnem zugegangen. Er drehte sich zu mir und stellte mir seine Frage nicht bloß gut gelaunt, sondern auf eine etwas schalkhafte Weise:
    »Wer ist denn diese Puppe? …«
    Er wußte natürlich, wem er gegenüberstand, aber auch er war verunsichert von dem, was er sah. Doch in den vergangenen Jahren hatte er, wie wir alle, seine schauspielerischen Fähigkeiten entwickelt. Anders konnte ich mir nicht erklären, daß er dermaßen lässig wirkte. Ich fragte mich nicht einmal, ob hinter dieser Lässigkeit nicht eine Befürchtung lauerte. Şebnem stand bei diesen Worten auf. Sie schaute Yorgos freundlich, aber gleichzeitig wie strafend an. In dem Moment erstand vor meinem geistigen Auge ihr Verhalten in der Jugendzeit, das uns manchmal alle zur Raison gebracht und manchmal ein wenig in Schrecken versetzt hatten. Ich war wirklich gespannt, was sie sagen würde. Wahrscheinlich waren alle gespannt, vor allem natürlich Yorgos. Was sie sagte, war genau das, was wir von dieser kleinen Person hören wollten. Das, was wir in Erinnerung an die alten Zeiten hören und sehen wollten …
    »Hast du mich etwa nicht erkannt, Kahlkopf!«
    Sie hatte damit wieder ausgesprochen, was wir alle nicht hatten sagen können … Natürlich lachten wir. Auch Yorgos lachte. Er strich sich leicht über seinen fast kahlen Kopf. Bei seiner Antwort schaute er Şebnem gespielt lüstern an.
    »Aber ich bin doch sehr sexy, nicht wahr?«
    Er lächelte weiterhin und schien sich selbst leicht auf die Schippe zu nehmen. Es wurde deutlich, daß er sich längst mit seinem Zustand abgefunden hatte … Sicher hatte er nicht das Problem, sein Leben allein über die erotische Anziehungskraft zu definieren. Sein Satz war lediglich eine Replik in dem Augenblick des Spiels und für diesen Moment gedacht. Eine Replik in einem Spiel, das eigentlich mit großer Aufrichtigkeit, Einfalt, ja sogar Kindlichkeit gespielt wurde … Vielleicht die Replik jenes Spiels, das vor allem für eine Zuschauerin, eine einzige Zuschauerin, mit anderen Worten für diese Zuschauerin gespielt werden wollte … Dieses Mal erwiderte Şebnem nichts. Sie lächelte bloß liebevoll. Wer weiß, was sich in diesem Lächeln verbarg. Eine Fassungslosigkeit, als sei Sexualität ein sehr altes Märchen, etwas, das in einer anderen Welt zurückgeblieben war. Und eine aus dieser Fassungslosigkeit resultierende Ratlosigkeit oder eine mit Worten, zumal in einer Zeit, in der sie so viele Worte verloren hatte, nicht auszudrückende Liebe, die durch dieses unschuldige Spiel erweckt worden war … Die Tiefe in Şebnems Lächeln hatte mit unserer Vergangenheit zu tun, sie hatte mit unseren Erschütterungen zu tun und dem, was wir nicht hatten vergessen können. So war beispielsweise verständlich, weshalb Niso bei diesem Anblick wieder den wohlbekannten Komödianten spielte. Er wollte die beiden dort nicht allein lassen, sondern trat mit seinem Freund geradezu in einen Sexwettstreit, indem er wer weiß welche Filmszene meisterhaft karikierte, Şebnem machohafte Blicke zuwarf und sich vor ihr als Rowdy aufspielte.
    »Mädel, laß diesen dreckigen Sünder … Er versucht, dir den Kopf zu verdrehen, aber der Kerl ist verheiratet, sei doch nicht so blöd … Schau her, ich bin ledig. Ich werde dich nehmen …«
    Auch Necmi mischte sich ein.

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