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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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richtig ansehen, wie sehr sie diesen Abend herbeigesehnt hatte. Wie hätte man das nicht verstehen sollen? … Vielleicht war diese Begegnung eine Begegnung, auf die sie seit Jahren gewartet hatte. Eine Begegnung, auf die sie seit Jahren gewartet hatte, wobei sie manchmal schon die Hoffnung aufgegeben hatte, sie doch noch zu verwirklichen … Ich bemerkte ihre Unsicherheit. Die Art und Weise, wie sie beschwingt hereinkam, machte mir erneut den Eindruck, sie befürchtete, übersehen zu werden; sofort musterte sie das Umfeld mit verstohlenen Blicken, wobei sie sich bemühte, das Lächeln nicht zu verlieren. Es war unschwer zu erraten, wen sie insbesondere suchte. Als sie den Erwarteten jedoch nicht erblickte, ließ sie sich nichts anmerken. Denn wie sie wußte, mußte er unbedingt kommen. Zudem war zuerst Necmi an der Reihe. Diese Begegnung war für die beiden die erste Begegnung nach all den langen Jahren. Als sie einander umarmten, waren sie sehr bewegt, und beide mußten sich beherrschen, um nicht zu weinen. Ja, wir alle umarmten eine Vergangenheit, unsere Vergangenheit. Wir alle beweinten Teile von uns, die in der Vergangenheit gestorben waren. Genauso wie wir manchmal unsere irgendwo verlorenen Gassen, Wohnviertel, Städte beweinten … Dann war die Reihe an der Begegnung der beiden Frauen. Ich merkte, daß Şeli bei dieser Umarmung zweifellos eine Unsicherheit verspürte unter dem Eindruck dessen, was sie über Şebnem wußte. Natürlich versuchte sie, sich ihre Gefühle möglichst nicht anmerken zu lassen, doch ich bemerkte sie trotzdem. Was hätte sie wohl getan, wenn sie Şebnem schon früher gesehen hätte, wenn sie jenes kleine Mädchen gesehen hätte, das dort für immer in der Finsternis verloren zu sein schien? Was jedoch Şebnem in jenem Moment fühlte, war mir unmöglich zu erraten. Sie schaute mit jenem entfernten Lächeln, an das ich mich inzwischen immer mehr gewöhnt hatte. Neu war ihr Wille, ihr angestrengtes Bemühen, noch mehr zu uns zurückzukommen. Das war zweifellos ein wichtiger Unterschied. Doch die Ferne war immer noch da, sie machte sich irgendwie bemerkbar. Man konnte aber spüren, daß die beiden große Sehnsucht nach einander gehabt hatten. Diese Sehnsucht konnte ich sogar in Şebnems Augen sehen. Şeli blieb dieses Mal stumm. Sie wußte nicht, was sie angesichts dieser Blicke tun sollte. Auch wir wußten in diesem Augenblick nicht, was wir sagen oder tun sollten. Ich schaute Zafer Bey an, dann Necmi, Çela. Auch sie warteten und versuchten zu verstehen. Şebnem kam uns zu Hilfe, als spürte sie, was wir fühlten. Sie schaute Şeli nun mit liebevollen Augen an, so als wollte sie sie beruhigen. Aus ihren Worten konnte man diesen Schluß ziehen.
    »Du bist sehr süß, sehr …«
    Das waren schon fast die Worte einer älteren Schwester. Die Situation war etwas seltsam, unerwartet und mußte aufgefangen werden. Şeli übernahm augenblicklich die Rolle der Verantwortlichen. Es mußte Güte erwiesen werden, und sie erwies Güte. Sie wußte, daß sie eine Antwort geben mußte. Ich spürte, daß sie dies trotz ihrer Verblüffung wußte. Wir alle beobachteten die beiden. Endlich kam die Antwort. Die Herzlichkeit hatte wieder gesiegt.
    »Auch du bist sehr süß, kleine Şebnem … Mein Schatz …«
    Ihre Stimme zitterte. Unzweifelhaft hätte sie noch viel mehr sagen können. Doch in dem Moment konnte sie nur soviel sagen. Die Szene war schwer zu ertragen. Diese Gefühle waren für uns alle überwältigend. Jemand mußte diese Stimmung auflockern. Gerade wollte ich allen Getränke anbieten, als mir Necmi zuvorkam und die Frauen im Umgangston der ›Schauspieltruppe‹ anredete.
    »Wenn man euch sieht, könnte man denken, ihr seid zwei ehemalige Geliebte, verflixt noch mal! …«
    Çela wußte angesichts dieses Ausbruchs nicht, wie ihr geschah, auch Zafer Bey war erstaunt. Ich lachte. Selbst ich konnte nicht verhindern, daß ich ein wenig kindisch lachte. Nicht nur, um Necmi zu unterstützen, sondern weil ich mehr oder weniger erraten konnte, was gleich passieren würde. In dem Moment sah ich, daß meine Vermutung mich nicht getrogen hatte, daß trotz all der Jahre unsere Bindungen nicht zerrissen und einige unserer Gemeinsamkeiten nicht tot waren. Auf das Gerede von Necmi hin lächelten die beiden Mädchen schwach, sie kniffen ihre Augen übertrieben zusammen und schauten ihn gespielt wütend an. Zuerst sagte Şeli, wie es die Sitte verlangte: »Unverschämter!« und gleich darauf Şebnem:

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