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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Dieses Mal nahm er Niso wegen der vorangegangenen Äußerungen aufs Korn.
    »Schau den schlauen Juden an! … Wie der mal wieder die Gelegenheit ausnutzt! … Meine liebe Şebnem, glaub bloß diesem hergelaufenen Ungläubigen nicht! …«
    Sowohl Çela als auch Zafer Bey fielen bei dem, was sie da hörten, fast die Augen aus dem Kopf. Wir aber lachten bloß. Wir wußten ja nur zu gut, was wir warum und mit welchen Gefühlen sagten … Die waren seit Jahren schon tief in uns verwurzelt. Diese Art Wurzeln machten die Wurzeln, die für andere sehr wichtig waren, in unserer Erde bedeutungslos. Das, was wir erlebt hatten, hatte uns unsere Wurzeln nicht auszureißen vermocht. Ich bin mir sicher, auch Niso war Necmi mit diesen Gefühlen verbunden. Und eigentlich gehörte zu dieser Verbindung auch, daß die gegenseitige Fopperei nicht ohne Erwiderung blieb.
    »Sie haben dich also im Knast wohl nicht umgebracht, du kommunistisches Vierauge!«
    Necmi mußte natürlich auf diese Anspielung noch eins drauf setzen.
    »Wahrscheinlich wolltest du Dreiauge sagen!«
    Wir lachten verhalten. Wollte er wirklich, daß wir über seinen Ausspruch lachten? … War das etwa ein Protest, der Versuch, sich noch mehr mit einem Unrecht abzufinden, indem man das erlittene Unrecht lächerlich zu machen versuchte? … Diese Fragen stellen zu müssen war an sich schon traurig genug. Wer weiß, was die Vergangenheit, die in uns ablief, in unseren Leben sonst noch zerstört hatte … Ich zweifelte nicht, daß alle in der ›Truppe‹ den Kummer spürten. Wir alle hatten irgendwo etwas zurückgelassen, das wir nicht einmal benennen wollten …
    So wurde also die Zeit der Wiederbegegnung erlebt. Wir tranken noch ein bißchen und foppten uns noch ein bißchen. Wahrscheinlich waren wir in dem Augenblick überzeugt, die Leere der Jahre nur auf diese Weise ausfüllen zu können …
    Dann gingen wir zu Tisch. Necmi setzte sich zwischen Şeli und Çela, Yorgos gegenüber von Şeli. Yorgos saß neben Şebnem, neben dieser saß Zafer Bey, neben Zafer Bey nahm Niso Platz. Mir als Hausherrn jedoch blieb nichts anderes übrig, als an der Stirnseite des Tisches zu sitzen. Doch wie ich sah, hatte niemand etwas dagegen. Es fiel uns nicht schwer, unsere Plätze zu finden. Sowieso hatten die Plätze keine allzu große Bedeutung. War nicht das eigentlich Wichtige, daß wir nach Jahren noch einmal vollzählig zusammengekommen waren? Vielleicht fehlte uns manches, aber dennoch waren wir vollzählig …
    Die Speisen schmeckten erwartungsgemäß allen sehr gut und wurden gebührend mit Lob bedacht. Çela war glücklich, weil sie die Belohnung bekam, die sie verdient zu haben glaubte. Sie hatte sich wieder einmal erfolgreich als gute Hausfrau erwiesen. Das waren Lobpreisungen, an die sie gewöhnt war, die sie aber trotzdem nicht missen wollte. Natürlich fanden auch die Weine Anklang. Der Erfolg war einer von meinen kleinen Erfolgen, an die ich gewöhnt war … Inzwischen war mir jedoch bewußt, daß wir um den heißen Brei herumredeten. Auch war ich mir sicher, daß nicht allein ich das bemerkte. Jemand mußte das Thema anschneiden. Das konnte aber niemand außer mir, es durfte keiner. Ich war der Gastgeber. Ich war derjenige, der die ganze Sache angestoßen hatte. Ich begann mit einem Dank an alle und hoffte dabei, mich ein wenig besser einzustimmen auf das, was ich sagen wollte. Ich sagte, ich hätte anfangs nicht recht daran geglaubt, die ›Truppe‹ wirklich wieder zusammenbringen zu können. Doch ich hätte Glück gehabt. Es habe ein paar Schwierigkeiten gegeben und einige Mühen gekostet, doch die Begegnung hätte sich leichter als gedacht verwirklichen lassen. Vielleicht hätte auch nur irgend jemand den Anstoß geben müssen. Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, daß wir so viele Erzählungen anhäufen würden. Doch wir hatten sie angehäuft. Wir hatten gelebt, wir hatten gekämpft, wir hatten erlebt, was uns möglich war, und doch hatten wir zueinander zurückfinden können. Trotz aller Grenzen und Fernen, die uns trennten … Ich hatte diese Rede nicht vorbereitet, vielmehr gefunden, mich vorzubereiten paßte nicht zu mir. Ich wollte meinen Impulsen folgen. Und so machte ich es dann auch. Sonst hätte man es sofort gemerkt, und ich wäre binnen kurzer Zeit verspottet worden. Wir waren ja so miteinander verbunden … Wir hatten voneinander, wie man so schön sagt, derartig viele Blößen gesehen. Diese Besonderheit, die es nur selten gibt, war uns bewußt.

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