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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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einen Zug mit Absicht verpaßt hatte, ja, der diesem Zug lächelnd nachwinkte. Was mich dabei vor allem tröstete, wenn ich mich an die Tiefen unseres Lebens erinnerte, war meine Überzeugung, daß das Ziel des Zugs im Grunde nicht sehr viel anders war als der Ausgangsbahnhof. Necmi war mit dieser Haltung gegenüber dem Leben gleichzeitig mein Gewissen. Ihm war einzig der Protest geblieben, nicht in diesen Zug einzusteigen, daß er sich einzusteigen geweigert hatte. An jenem Morgen rief ich ihn natürlich nicht an, um mit ihm über diesen Protest zu reden. Doch ehrlich gesagt war unter anderem auch das Gefühl der Nähe ein Grund dafür, daß ich ihn anrief.
    Ich rief ihn an und sagte, wir müßten uns sofort irgendwo treffen, um etwas zu besprechen. Er antwortete, er könne binnen einer Stunde nach Ortaköy kommen. Wir könnten uns am Brunnen auf dem Platz treffen. Das paßte mir. Wir trafen uns also erneut an der besagten Stelle zur verabredeten Uhrzeit und setzten uns in eins der Cafés. Zuerst tranken wir jeder einen Kaffee, ohne viel zu reden. Ich mochte auch unser Schweigen. Dann versuchte ich irgendwie zum Thema zu kommen.
    »Wir haben gelebt und gelebt, haben alles mögliche erlebt, aber dann sind wir wieder an den Anfang zurückgekehrt … Schau mal einer an! …«
    Ich bin sicher, er verstand. Doch er antwortete nicht. Er begnügte sich wieder nur mit einem Lächeln. Ich aber fuhr fort.
    »Hier haben wir nach all den Jahren zum ersten Mal wieder zusammengesessen. Damals gab es nur eine gute Absicht. An jenem Abend habe ich nicht geglaubt, daß wir so weit kommen würden. Erst recht nicht an das, was geschehen ist. Aber es ist passiert. Wir haben die ›Truppe‹ zusammengebracht. Eigentlich … Eigentlich haben wir viel mehr zusammengebracht … Vielen Dank … Für alles, was du getan hast, dafür, daß du mich nicht allein gelassen hast …«
    Er schaute vor sich hin. Er war bewegt. Ich wußte nicht, ob ihn meine Worte bewegten, mein Dank oder das, was meine Worte an Erinnerungen in ihm auslösten, doch ich sah, daß er bewegt war. Seine Stimme zeigte offen seine Ergriffenheit.
    »Anders ging es nicht … Ich habe das auch für mich getan …«
    Wir schwiegen wieder eine Weile. Dann fuhr er fort. In seiner Stimme war ein unbestimmtes Zittern. Ein Zittern, dessen Grund ich nicht kannte. Wir schienen im Laufe unseres Gesprächs auch zu einer anderen Quelle hinunterzusteigen. Ich wartete. Ich bereitete mich darauf vor zu hören, noch einmal zu hören, was ich hören konnte.
    »Wir haben es aber gut gemacht, nicht wahr? … Wo wir die Leute nicht überall hergeholt haben …«
    Auch diese Worte hätten mit unterschiedlichen Bedeutungen und Assoziationen in jeder Erzählung vorkommen können. Redeten wir um das eigentliche Thema herum? Es wurde Zeit, daß ich davon anfing. Gerade an diesem Punkt konnte ich ihn in die von mir gewünschte Richtung ziehen.
    »Das wollte ich mit dir gerade besprechen. Haben wir es wirklich gut gemacht? … Oder haben wir alle umsonst in diese Sache hineingezogen?«
    Dieses Gefühl war es eigentlich nicht, das ich mitteilen wollte. Doch ich spürte, wir kamen ihm langsam näher. Er antwortete leicht nachdenklich, doch so, als wollte er zeigen, er sei nicht damit einverstanden, daß jene Begeisterung erlosch.
    »Nein, also warum sagst du ›umsonst‹ … Wir sind doch zusammengekommen … Wir haben uns wiedergesehen … Was denn noch?«
    Das war auch mir klar. An jenem Morgen war ich, ehe ich ihn gesehen hatte, selbst zu dieser Erkenntnis gelangt. Meine eigentliche Sorge war dies sowieso nicht. Ich nahm einen weiteren Anlauf.
    »Na ja … Eigentlich meine ich das gar nicht. Ich habe ein anderes Problem … Ich …«
    Er unterbrach mich. Diesmal lagen in seiner Stimme die so wohlbekannte Freundschaft und Herzlichkeit.
    »Du denkst an Şebnem, nicht wahr?«
    Ich nickte und schluckte. Anders konnte ich meine Unsicherheit nicht ausdrücken. Auch auf seinem Gesicht war Unsicherheit zu lesen. Es war, als würde auch in seiner Stimme das Zittern deutlicher. Doch gab es einen kleinen Unterschied zwischen uns beiden. Er schien etwas vorbereiteter als ich zu sein, mit der Schwierigkeit zu kämpfen, der wir uns gegenübersahen. In seinen Worten lag eine Hoffnung, die wir wohl alle brauchten.
    »Denk nicht zu sehr über das Spiel nach … Ich hab mir etwas überlegt. Wir nehmen im Text einige Veränderungen vor in der Rolle von Şebnem … Aber wir bringen sie unbedingt auf die Bühne …

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