Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
versuchen wir bloß noch, Teile davon einzusammeln … Die Teile, die wir irgendwo in unserer Vergangenheit zurückgelassen haben … Deswegen sind wir hier …«
War die Realität dermaßen grausam? … Waren wir angesichts dieser Realität dermaßen schutzlos? … Hatte uns die Realität dermaßen egoistisch gemacht? … Ich wollte sicher sein. Vielleicht lag in seinen Worten die Antwort auf eine Frage, die zu stellen ich nicht umhinkam, und doch tat ich den Schritt zu einer letzten Verteidigung.
»Haben wir durch diesen Egoismus etwa einen Mord begangen, dessen Schmerz wir kaum ertragen können? … Wie werden wir mit diesem Schmerz weiterleben? … Wie wirst du damit weiterleben? …«
Auf diese Frage hin ließ er meinen Arm los. Ich schwieg und wartete. Mein Warten war nicht umsonst. Was er sagte, ging weit über meine Erwartungen hinaus.
»Ich habe einen Entschluß gefaßt … Nach dem gestrigen Abend … Ich habe darüber nachgedacht, wie ich dir das sagen soll. Doch wahrscheinlich ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt. Ich werde noch mit Zafer Bey reden … Ich will Şebnem zu mir nehmen … Will mit ihr leben … Natürlich nur, wenn sie will … Und wenn sie will … heiraten wir vielleicht sogar … Eine sinnvollere Ehe könnte ich in meinem Alter gar nicht eingehen …«
Natürlich wußte ich nicht, was ich in diesem Moment sagen sollte. Das hatte ich tatsächlich nicht erwartet. Ich war im besten Sinne des Wortes total durcheinander. Erstaunen, Freude, Schmerz, Eifersucht … So viele Gefühle vermischten sich … Wahrscheinlich waren meine Worte beeinflußt von diesen Gefühlen. Und außerdem versuchte ich, mich an die Situation zu gewöhnen.
»Glaubst du etwa, daß sie das zulassen? … Wir sind nicht in einem Film, Junge … Es gibt Gesetze und Regeln … Du bist kein Verwandter des Mädels, das klappt doch nicht …«
Er nickte, als wollte er sagen, er habe diese Möglichkeiten bedacht. In dieser Bewegung lag auch eine Entschlossenheit, als hätte er sich bestimmte Lösungen überlegt. Was er dann sagte, bestätigte meinen Eindruck.
»Ich weiß, ich weiß … So leicht ist das nicht … Doch ich werde es versuchen und tun, was ich kann … Letzte Nacht habe ich nicht schlafen können. Ich habe darüber nachgedacht, was ich sagen werde, wie ich den Arzt überzeugen kann. Wir werden herausfinden, ob es gesetzliche Wege gibt. Vielleicht … Vielleicht lasse ich mich als ihr gesetzlicher Vertreter einsetzen … Wir werden das Mädchen schließlich nicht entführen! … Außerdem wollen sie Şebnem doch gerne herausgeben, Mensch! Da wären sie für eine weitere Kranke die Verantwortung los, ist das nichts? … Sie geben sie mit Kußhand, mit Kußhand, du wirst sehen …«
Er hatte nachgedacht, neue Wege für sich gesucht. Aus seinen Worten konnte ich keinen anderen Schluß ziehen. Doch leider war ich immer noch verdattert. Einerseits versuchte ich, ihn zu verstehen, mitzufühlen, andererseits aber mich zu verteidigen und den Vorwurf der Eifersucht abzuwehren, die mich bei seinen Worten erfaßt hatte … Wohl deswegen wollte ich die Rede darauf bringen, was Şebnem bei dieser Aufforderung fühlen würde. Schließlich war sie die andere Betroffene der Erzählung.
»Wird sie deiner Ansicht nach überhaupt mitkommen wollen?«
Langsam bewegte er den Kopf von einer Seite zur anderen. Dabei schaute er wieder vor sich hin … Und versuchte wieder zu lächeln … Er schwieg und versuchte in diesem Schweigen zu erzählen, was in seinem Inneren vor sich ging … Meine Frage war zweifellos berechtigt. Trotzdem beabsichtigte ich damit anscheinend noch etwas anderes. Wollte ich ihn vielleicht aufhalten? … Allein diese Frage zu stellen war mir unangenehm. Und doch wußte ich, was ich fühlte, war menschlich und echt. Sah er den Punkt, wo ich mich prüfte? … Schaute er mich auch deswegen nicht an und lächelte wortlos, weil er Bescheid wußte? Dann fühlte ich mich gedrängt, eine weitere Frage zu stellen. Ich tat einen weiteren Schritt auf ihn und mich selbst zu. Die Frage war uns überhaupt nicht fremd. Nur der Ort und die Erzählung hatten sich geändert. Und die Person, die fragte …
»Warum tust du das?«
Er hatte weiter vor sich hin geblickt. Angesichts dieser Frage hob er langsam sein Gesicht und setzte die Brille ab. Offensichtlich wollte er mehr von sich zeigen … In dem Moment bemerkte ich die tiefe Melancholie in seinen Blicken. Auch seine Antwort war zutiefst melancholisch, sehr
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