Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
anrührend.
»Weil das Leben verrinnt …«
In dem Augenblick fühlte ich im Inneren einen Schmerz, der mir sogar das Atmen erschwerte. Hätte ich mich nicht beherrscht, hätte ich auf der Stelle losgeheult. Ich stand jetzt einer tiefverwurzelten Sorge gegenüber, einem erneuten Kampf um die Existenz, um trotz allem, was passiert war, das eigene Dasein zu verteidigen. Er verstand, und ich hatte gesehen, was ich sehen mußte. Diese Sorge rief mich sogar dazu auf, mich meiner eigenen Besorgnis zu schämen. Wir waren auf den Spuren einer Geschichte voller Ungerechtigkeiten und Schmerzen. Jetzt war es an mir, seinen Arm zu ergreifen und zu drücken. Was wir erlebt hatten, hatte uns viele Menschen gekostet. Viele Menschen, viele Hoffnungen und Träume von einem Morgen … Doch wir hatten durchgehalten, hatten trotzdem durchgehalten, wir hatten bis jetzt durchhalten können … Freilich war ich eifersüchtig auf ihn wegen des Schrittes, den ich hatte tun wollen, aber nicht hatte tun können. Diese Wahrheit mußte ich mir wieder und wieder eingestehen. Doch daß die Erzählung sich in dieser Weise entwickelte, mußte mir auch eine neue Hoffnung geben. Ich wußte, er sah und fühlte meinen inneren Kampf. Hätte er gefragt, etwas gesagt, hätte ich es sowieso nicht nötig gehabt, mich zu verstecken. Schließlich waren wir so, wie wir waren, weil wir uns voreinander nicht zu verstecken brauchten. Nur so konnte ich mir erklären, daß er mich offensichtlich zu beruhigen versuchte.
»Es gab keinen anderen Weg, Isi … Ein Teil von mir, ein sehr wichtiger Teil, ist irgendwo längst abgestorben. Ich weiß nicht, wieweit du das verstehst, wieweit ich dir das klarmachen kann, aber glaub mir, er ist längst gestorben … Was habe ich jetzt wohl noch zu verlieren …«
Freilich verstand ich, was es für mich zu verstehen gab. Vor allem verstand ich seine Aufrichtigkeit. Und … daß er Şebnem mehr brauchte als ich. Vielleicht war dies sein eigentlicher Kampf. Sein letzter Kampf von Bedeutung. Die Frage war, warum er den nicht früher gewagt hatte, doch ehrlich gesagt wollte ich keine Zeit mit so einer Erörterung verlieren. Unsere Schwächen, unsere Nöte und Verluste hatten uns halt so weit gebracht, wie es ging. In dem Moment sah ich ein wenig deutlicher, wie sehr ich ihn liebte. Diese Liebe führte uns beide zu einem anderen Punkt. Denn wenn ich die Dinge aus dieser Sicht betrachtete, dann nahm sogar meine Eifersucht eine Form an, in der ich sie bekennen konnte …
»Du nimmst mir meine Geliebte weg, Scheißkerl! … Und das noch ganz offen!«
Er lachte … Auch ich hielt die Rolle des eifersüchtigen Mannes nicht länger aus und lachte. In dem Augenblick wäre ich nur zu gerne zu unserer früheren Einfalt zurückgekehrt. Zu unseren Besuchen im Puff, zu den nächtlich kalten, vom Heizungsrauch erstickten Gassen von Nişantaşı, zu unserem großspurigen Gerede, unserer Erregung beim Betrachten der dreckigen Bilder mit nackten Frauen … Wie weit entfernt lagen nun manche Lebensabschnitte. Wie weit entfernt von uns war nun auch jene Stadt … Es gab nur noch die Möglichkeit, das zu spielen, was wir dort gelassen hatten … Darum mußten wir uns an dem festhalten, was unser Leben uns hatte gewinnen lassen. Ich schaute ihn noch einmal an. Mir saß ein sehr verletzlicher Mensch gegenüber. Ich konnte nicht anders, als ihm mitzuteilen, was mich dieser Anblick spüren ließ. Zugleich wollte ich ihm durch eine zarte Neckerei, indem ich ihn ein wenig aufs Korn nahm, auch sagen, wie sehr mir sein jetziger Zustand gefiel.
»Und da heißt es, die Revolutionäre sind hart, dem Leben gegenüber unerbittlich geworden … Aber schau mal an, was du da getan, gefühlt hast und was du mich hast fühlen lassen …«
Sein Gesicht schien etwas wie die Verachtung solcher Ansichten auszudrücken … Seine Worte ließen jedoch zugleich das Bedürfnis spüren, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren.
»Wieso? … In Wirklichkeit ist das keineswegs so. Revolutionäre sind, anders als sie scheinen und sich darstellen, empfindsame Menschen. Gut, es gab Regeln, und wegen jenes Kampfes mußten sie sich notgedrungen verhärten. Doch grundsätzlich sind sie empfindsam. Denn angesichts der Ungerechtigkeit konnten sie nicht anders als aufbegehren. Für diesen Widerstand haben sie sogar ihr Leben riskiert. Auch sie hätten den Aufstieg über die Stufen der wohlbekannten Treppe wählen können. Aber sie haben sich anders entschieden …«
Das Zittern in
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