Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
ich hätte mich sehr darum bemüht, Şebnem ins Leben zurückzubringen. Den Erfolg in der Geschichte könne man nicht allein Necmi zuschreiben. In ihrer Stimme lag etwas Besitzergreifendes. Daraufhin schaute Şeli mich mit einem bedeutsamen Lächeln an, während sie sagte, ich hätte ihr ebenfalls von diesem Kampf erzählt … Ich hätte einen sehr überzeugenden Weg eingeschlagen. Es sei sehr sinnvoll, uns alle wieder zusammenzubringen. Ich meinerseits konnte aus all dem, was gesagt wurde, viele andere Bedeutungen herauslesen. Meine Eigenschaft, hinter allem Gesagten etwas nicht Gesagtes zu vermuten, meldete sich wieder einmal störend. Ich wußte, es war ermüdend, so zu leben, doch ich konnte diese Eigenart nicht ablegen, sosehr ich auch meinen Verstand einschaltete. Meine Intuition ließ mich befürchten, die Frauen könnten sich, wenn sie sich näherkamen, über andere weibliche Gefühle austauschen. Ich schwieg und versuchte auch diese Sorge in mir zu begraben. Mit all meinen Irrtümern und Illusionen … Ich sagte, daß eine echte Gemeinsamkeit sehr bedeutungsvoll sei, daß nur sehr wenige Menschen den Geist einer solchen ›Gruppe‹ erleben könnten und daß wir den Wert dessen, was wir bis heute gemeinsam gewonnen hatten, ebenso schätzen müßten wie das, was wir durch den gemeinsamen Verlust gelernt hatten. Sie waren mit mir einer Meinung. Dann ging jeder in den Tag, in seinen eigenen Alltag hinaus. Sie wollten nach Beyoğlu aufbrechen, um ein paar Dinge zu besorgen, die für die Kostüme noch fehlten. Sie konnten dafür sowohl in die Atlas-Passage als auch ins Untergeschoß von Aznavur gehen. Ich meinerseits hatte etwas viel Einfacheres zu erledigen, was jedoch nötig war, um dieses Leben so weiterzuführen. Ich mußte die Zahlungseingänge kontrollieren. Das Schiffchen mußte in Fahrt kommen.
Necmi erwischte mich an solch einem Tag, mit diesen Gefühlen. Nicht mal eine Stunde später kam er in den Laden. Dieses Mal las ich die Aufregung in seinem Gesicht. Es drückte sowohl Hoffnung als auch Hektik und Sorge aus. Er hatte sich nach jenem Sonntag jeden Tag mit Şebnem getroffen. Sie waren im Garten des Krankenhauses spazierengegangen und hatten über ihr Zusammenleben diskutiert. Natürlich auch über das Zusammensein, das sie vor langer Zeit hatten aufgeben müssen … Allein schon daß sie miteinander sprechen konnten, machte Hoffnung. Was für eine Bedeutung solche Gespräche nach so vielen Jahren auch immer haben mochten … Zafer Bey würde den nötigen Bericht verfassen. Nach einigen Tagen würde Şebnem vor die Kommission treten. Sie könne dann versuchen, einen Schritt in jenes Haus zu tun. Würden sie aus den Ruinen in ihrem Inneren nun endlich jenes Haus bauen, von dem sie einst nur hatten träumen können? Ehe sie dem Leben draußen, das ihr wahrscheinlich sehr brutal vorkommen würde, noch einmal gegenübertrat … Höchstwahrscheinlich würde es kein Problem geben. Auch Fatoş Abla sei sehr glücklich. Wir lächelten uns an. Ich sagte, nur eine Mutter wie sie könne in solch einer Lage glücklich sein. Eine Verrückte verstand die Situation der anderen Verrückten. Wir waren sehr gerührt. Necmi sagte, er habe noch nicht entschieden, welche von beiden verrückter sei. Die alten Tage zogen vor unseren Augen vorbei. Ich sagte, ich würde auch Fatoş Abla besuchen kommen. Darauf antwortete er, sie sei mir schon richtig böse, daß ich noch immer nicht vorbeigekommen sei. Um sie versöhnlich zu stimmen, müsse ich mich gehörig anstrengen, sie mit Geschenken überschütten. Es war klar, wer das ursprünglich gesagt hatte. Wir lachten wieder. Necmi war nicht mehr so wütend auf seine Mutter wie früher. Wie hätte er das auch sein können? … Nach allem, was er erlebt hatte … Hätten wir damals gewußt, was wir noch alles erleben würden, hätten wir uns da von jenen zornigen Gefühlen so mitreißen lassen? Das Leben war die eigentliche Schule. Es lehrte die Menschen im Laufe der Zeit, und erst im Laufe der Zeit fanden die Gefühle ihren eigentlichen Platz. In dem Moment schwiegen wir kurz. Vielleicht sahen wir beide denselben Punkt, suchten uns innerhalb derselben Bilder, versuchten uns darin zu finden. Er brachte seine Sorge zur Sprache, und seine Stimme drückte diese Sorge ganz offen aus.
»Auch ich habe Angst, Isi … Nicht meinetwegen, sondern ihretwegen …«
Ich ließ ihn nicht weitersprechen. In dem Augenblick mußte ich ihm Mut machen. Denn nur so konnte ich mir selbst Mut machen.
Weitere Kostenlose Bücher