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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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daß wir uns von nun an nie mehr trennen würden … So wie ich mich nie mehr von Necmi trennen würde …
    Und die anderen? … Was fühlten sie für sich und füreinander? … Diese Fragen stellten wir an jenem Abend ebenfalls. Zum Beispiel sprachen wir über Yorgos und Şeli. Wir wußten nicht, was sie erlebten. Wir würden auch nicht versuchen, es herauszubekommen, es sei denn, sie wollten es erzählen. Trotzdem wollten wir beide glauben, daß sie ihrem Leben etwas Unvergeßliches hinzufügten, wie immer man das auch nannte. Denn das war ihr Recht. Ein jeder würde irgendwie schon den besten Weg finden … Wir sprachen sogar auch über Necmi und Şebnem. Natürlich zuerst über Şebnem … Niso sagte, er mache sich ihretwegen Sorgen. Auch ich machte mir Sorgen. Vielleicht unterschieden sich unsere Sorgen, aber es gab ganz offensichtlich eine Besorgnis. Wir würden sehen. Auch sie hatten gewagt, sich auf einen Weg zu machen. Ich erzählte, warum und mit welchen Gefühlen Necmi sich auf jenen Weg gemacht hatte. Wir gaben ihm ebenfalls recht. Konnten die Wunden, die uns die Geschichte geschlagen hatte, dazu dienen, uns noch stärker ans Leben zu binden? … Diese Frage konnte ich nicht beantworten. Ich konnte nur sagen, daß unsere Verluste uns alle gelehrt hatten, noch widerstandsfähiger zu werden. Und ich fügte hinzu, daß manche Wunden manchmal schwerer zu ertragen waren als der Tod …
    Es war unvermeidlich, daß unsere Gespräche uns wieder bis in die tiefsten Nachtstunden trugen. Dann standen wir auf. Ich brachte ihn nach Şişli, wo er wohnte, und kehrte zu mir nach Hause zurück. Çela schlief. Meine Tochter schlief ebenfalls. »Erwacht! / Werft ab den flaum'gen Schlaf, des Todes Abbild, / Und seht ihn selbst, den Tod! …« 27 Warum fielen mir plötzlich diese Verse ein? … Es war mir egal. Noch war nicht Zeit, an die Toten zu denken … Ein weiterer wichtiger Tag erwartete uns. Wir wollten uns am Nachmittag fünf Stunden vor Beginn des ›Spiels‹ zur Generalprobe treffen … Würde es ein Problem geben? … Das konnte sein. Doch wenn, dann war das jetzt nicht mehr wichtig. Wenn ich mir all das ins Gedächtnis rief, was wir erlebt hatten und einander hatten erleben lassen, war das wirklich nicht mehr wichtig. Wir hatten unsere eigentlichen Spiele erlebt. Außerdem hatten wir noch weitere Szenen, Akte zu spielen. Und auch Repliken, die noch nicht geschrieben waren, die erst im Laufe der Zeit geschrieben werden sollten … Mehr mußte man nicht erwarten, um sich ans Leben zu binden …

Unser Lied
    Meine Aufregung an jenem Morgen steigerte sich durch die traurige Freude, die dem bevorstehenden Ende entsprang. Was hatten wir nicht alles erlebt, während wir uns auf das ›Spiel‹ vorbereitet hatten … Am Anfang hatte ich wissen wollen, ob ich meinem Leben eine neue, aber echte Farbe würde hinzufügen können oder nicht. Ich hatte sowohl diese Frage als auch die Antwort sehr nötig gehabt. Und auch, mir zu sagen, daß das, was ich erlebt, und sogar das, was ich verloren hatte, von Bedeutung war … Dermaßen erschüttert war ich gewesen. Dann aber erfuhr ich, daß es auch an anderen Orten in anderen Leben tiefe Erschütterungen gegeben hatte. Die Erzählungen hatten geschmerzt. Doch noch viel mehr geschmerzt hatte mich die Geschichte der Stadt – der ich mich mit meiner gesamten Identität und meinem Wesen verbunden fühlte –, wie sie in den Erzählungen der Protagonisten vorgekommen war. Am Ende bekam ich aber wesentlich mehr Antworten, als ich erwartet hatte. Für mich war jedes Leben eine Antwort, jeder Augenblick, der nach Jahren gelebt wurde, gelebt werden konnte, war eine Antwort … Natürlich war ich verwundet, ich war immer noch verwundet. Die Verletzung, um derentwillen ich mich auf diesen Weg gemacht hatte, schmerzte weiterhin. Ich würde damit aber fertig werden, ich würde lernen, mit dieser Wunde zu leben. Das Erzählte erinnerte mich noch einmal daran, das Leben anders anzupacken. Ich konnte mich nun nicht mehr anders entscheiden …
    Wir waren beim Frühstück. Ich war versunken in den Stimmen und Bildern aus jenen Erzählungen, die in mir nachhallten. Meine Versunkenheit entging Çela natürlich nicht. Ich versuchte ihr ein wenig zu erzählen, was ich fühlte. Meine Sorgen, meine Hoffnungen, meine Freuden, meine Aufregung … Sie bemühte sich hingegen, mir zu versichern, wie richtig doch mein Standpunkt sei. Ihr Bemühen war frei von krampfhaftem Mutmachen. Ich zweifelte nicht, daß

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