Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
dahinfuhren. Als er merkte, wohin wir fuhren, zögerte er nicht, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
»Gratuliere, Bruder! … Mann, du bist großartig, große Klasse! …«
Wir fuhren nach Büyükdere in jene Kneipe. In jene Kneipe, wo er mir vor Jahrzehnten gesagt hatte, er habe sich entschlossen, Istanbul zu verlassen und in ein neues Land, ein neues Leben zu gehen … Es war jetzt unmöglich, nicht ergriffen, melancholisch zu sein. Bei dieser Rückkehr mußten wir auch diesen Ort erleben, und zwar mit all unseren Erinnerungen, allem, was wir nicht hatten vergessen können. Ja, jetzt war die richtige Zeit. Die richtige Zeit … Der Weg kam mir sehr lang vor. Zudem hatte ich ziemliche Schwierigkeiten, die Kneipe zu finden. Ich war ja seit vielen Jahren nicht dort gewesen … Nicht nur, daß ich mich verirrte, zwischendurch befürchtete ich sogar, daß jener Ort total verschwunden sein könnte. Ich fuhr im Kreis, irrte umher und bog ständig in die falschen Gassen ein. Es war wie ein Albtraum. Rächte sich die Kneipe an uns, weil wir jahrelang nicht vorbeigeschaut hatten? … Doch nach langer Suche kamen wir endlich an den gesuchten Ort, stellten den Wagen ab und gingen langsam auf die Kneipe zu, wobei wir uns bemühten, auch die Umgebung wahrzunehmen. Wir gingen an den Fischern vorbei, öffneten die Tür und traten ein. Jedes Detail gehörte zu den unverzichtbaren Bestandteilen der Zeremonie. Alles schien so zu sein, wie wir es verlassen hatten … Die Treppen aus knarrendem Holz, das mit Linoleum belegt war, der Geruch von Alkohol, der sich mit dem Geruch von Fisch und Vorspeisen vermischt hatte … Als wäre die Zeit dort für uns beide stehengeblieben. Vielleicht sahen wir aber auch das, was wir sehen wollten. Viele Details hatte ich allerdings vergessen. Für ihn war es womöglich ebenso. Soviel Leben war inzwischen vergangen … Mochten auch in unserer persönlichen Geschichte viele Details in bezug auf diese Kneipe absichtlich oder unabsichtlich getilgt worden sein, vielleicht um uns zu schützen, so konnten wir doch jene Details, die mit der Geschichte unserer Stadt zu tun hatten, was auch immer uns geschah, nicht aus uns, unserem Inneren reißen. Im Gedenken daran bestellten wir unsere Vorspeisen, aßen wir unseren Fisch. Auch unseren Raki tranken wir in dem Sinne … Unsere Gespräche drehten sich wieder um das, was wir getan und nicht getan hatten. Wir hatten gelebt, und es lag noch zu Erlebendes vor uns … Wir sprachen über unsere Hoffnungen und persönlichen Erwartungen … Wir wollten vor allem über diese Hoffnungen und Erwartungen sprechen. Der Abend verlangte das von uns. Danach sprachen wir wieder über Theaterstücke. Über Der Preis von Arthur Miller und woran uns dieses Stück erinnerte … Diese Rolle würde Niso nach all den Jahren, nachdem er für so vieles den Preis bezahlt hatte, zweifellos noch viel besser spielen. Schauspielkunst bedeutete ja, das Gespielte zu verinnerlichen, zu fühlen, zu leben … Wir sprachen auch von seinem Plan, die Gedichte von Nâzım Hikmet ins Hebräische zu übersetzen und auf die Bühne zu bringen. Der Geist und die Form der Gedichte waren dafür sehr geeignet. Und wie beeindruckt wir doch von dem Theaterstück Kerem Gibi 25 gewesen waren, in dem Genco Erkal 26 gespielt hatte … Ich fragte ihn, ob er sich erinnerte, wie wir bei ihm, Niso, zu Hause Lesungen veranstaltet hatten. Natürlich erinnerte er sich, und zwar als wäre es gestern gewesen. Er erinnerte auch daran, wie sein Vater, weil er wußte, wen wir bis Mitternacht rezitierten, ins Zimmer gekommen war und gebeten hatte, die Stimmen etwas zu senken; und wie er, nachdem er hinausgegangen war, zur Mutter gesagt hatte: » Komunistos … Moz van a meter la kavesa en bela! …« – »Kommunisten! … Die stürzen uns noch alle ins Unglück.« In der Erinnerung an jene Zeiten lachten wir erneut. Wie fern lagen jetzt doch jene Tage … Lagen sie fern? … Lagen sie wirklich so sehr fern? … Vielleicht war das gar nicht so. Vielleicht waren wir trotz all unserer Aufbrüche noch immer am selben Platz … Dennoch durfte ich den Kampf, den Niso gekämpft hatte, nicht übersehen. An dem Abend vor Jahren, als wir seinen Weggang besprachen, ahnten wir nicht, was wir danach alles erleben würden … Die Kneipe war noch dieselbe, doch in uns gab es die Spuren einer langen Reise … In dem Augenblick wurde mir bewußt, wie wertvoll es für mich war, daß Niso seinen Enthusiasmus nicht verloren hatte … Und
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