Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
aufgeführt werden. Diesen Traum hatten wir noch nicht verwirklicht. Ganz sicher kamen Zeiten, in denen wir uns unausweichlich mit anderen Tatsachen auseinandersetzen mußten. In jenen Tagen aber sollten wir nur für jenes ›Stück‹ leben. Waren wir nicht um dieser Hoffnung willen aufgebrochen? …
Unsere Kneipe in Büyükdere
Am anderen Tag kamen alle wieder zur gleichen Zeit zur Schule, voller Aufregung, weil einen Tag später das ›Stück‹ vor Publikum aufgeführt werden sollte. Alles Notwendige schien erledigt zu sein. Das Bühnenbild war fertig, die Kostüme waren sowieso fertig. Das wichtigste aber, alle hatten entsprechend dem Geist der Truppe den Text gut auswendig gelernt. Es war offensichtlich, daß alle besonderen Wert auf das Textlernen gelegt hatten, aus Sorge, den Text zu zerstören, der die Erlebnisse, die Essenz der Jahre enthielt. Auf diese Weise gaben wir uns wieder einmal gegenseitig Kraft, und die Begeisterung, die jeden von uns beseelte, sprang auf die Truppe über. Die ›Schauspieltruppe‹ würde ein weiteres Mal ruhmreich ein Stück aufführen … Vielleicht deswegen entschlossen wir uns, jenen Abend anders zu verbringen als den Samstag vor einer Woche. Andere Zeiten erwarteten uns in einer anderen Ecke von Istanbul. Nach der Probe wollte sich ein jeder lieber in die eigene Welt zurückziehen. In die eigene Welt und in die Zeit, die man nun nicht mehr verpassen durfte … Egal, ob ganz allein oder zu zweit … Wir waren ja an einem Ort angekommen, wo ein jeder möglichst für sich gelassen werden wollte … Das Leben hatte uns ja auch gelehrt, daß der Druck, der auf einen anderen ausgeübt wurde, gleichbedeutend war mit der Beschneidung seines Lebens … Schließlich würden wir am folgenden Abend nach der Vorstellung des ›Stücks‹ unter dem Deckmantel, den Erfolg zu feiern, einander dieses Zusammensein erleben lassen … Dieses eine Zusammensein … Höchstwahrscheinlich war dieses Zusammensein dann unser letztes … Zumindest in diesem Lebensabschnitt … Wer weiß, wann wir später einmal erneut eine solche Reise unternehmen konnten, ohne daß einer oder etwas fehlte. Wir waren vollzählig da und wirklich vollständig … Vollständig in jeder Hinsicht, in jeder Bedeutung … Waren wir nicht eigentlich zueinander zurückgekehrt, weil uns etwas gefehlt hatte? … Wie aber hatten wir die Lücken füllen können, mit was, mit wem, mit welchen Seiten von uns? Necmi und Şebnem hatten sich auf den Weg einer Erzählung gemacht, die bisher noch keinen Namen hatte, doch ich zweifelte nicht, daß sie uns alle tief beeindrucken würde. Damit sie ihre Zweisamkeit so richtig ausleben konnten, wollte ich ihnen ohne Rücksicht auf meine Gefühle eine längere Zeit fernbleiben. Schließlich würde jeder in sein eigenes Leben zurückkehren, auch ich. Um erneut zusammenzukommen, mußten wir vielleicht an anderen Orten andere Lebenserfahrungen sammeln. Andere Lebenserfahrungen, andere Enttäuschungen, andere Sehnsüchte und andere Hoffnungen … Unsere Erlebnisse konnten uns erneut zusammenführen oder auch nicht. Angesichts dieser Möglichkeit sagte ich mir ein weiteres Mal, daß ich jeden Augenblick auskosten wollte, den ich mit ihnen erlebte …
Ich blieb mit Niso allein … Dieses unerwartete Zusammensein bot die Gelegenheit, andere verdiente Augenblicke zu erleben. Plötzlich fiel mir ein Ort ein. Ein Ort, den wir beide sehr gut kannten … Mit Worten und Blicken versuchte ich die Aufregung, die meine Erinnerung in mir auslöste, auf ihn zu übertragen.
»Los, gehen wir uns eine Tracht Prügel holen! … Dafür ist jetzt gerade die richtige Zeit! …«
Wir gehen uns eine Tracht Prügel holen … Diese Worte hatte ich seit Jahren nicht mehr benutzt … Wie hatte ich sie nur vergessen können, warum hatte ich mich nicht mal beim Zusammensein mit der ›Truppe‹ daran erinnert? Wie kam es, daß sich kein einziger erinnert hatte?… Folglich hatten wir manche unserer Geheimnisse in die tiefste Finsternis versenkt … Dabei war das eine Parole gewesen … Sie hatte bedeutet, daß wir zum Saufen gehen wollten … Wenn der Mensch jene Grenze überschritt, fühlte er sich ja manchmal wie verprügelt, von jemandem brutal verhauen … Was ich sagte, reichte schon aus. Die Worte kamen bei ihm an. Das Losungswort erweckte in ihm sowieso den nötigen Enthusiasmus, die dahinterstehende Geschichte mit ihren Möglichkeiten. Unsere Begeisterung steigerte sich, als wir auf der Uferstraße am Bosporus
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