Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
aber auch Bedauern. Fatoş Abla nickte mit dem Kopf angesichts der Realität, an die ich sie erinnert hatte. Hatte ich unnötig eine Wunde aufgerissen? … Wer weiß, welch schweren Preis auch sie infolge der Ungerechtigkeiten hatte zahlen müssen … In dieser Situation war es besser, das Thema zu wechseln. Man mußte sich lösen, sich vor dem Schmerz der nur schwer verheilenden Wunde schützen, die uns durch die Verluste der Vergangenheit geschlagen worden war … Şebnem kam uns zu Hilfe. Indem sie bei ihrem Eintreten in den Salon alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Es schien, als hätte sie wieder gute Laune. Sie setzte sich auf den freien Platz aufs Kanapee. Wir erlebten noch einen kurzen Moment des Schweigens. Dieses Mal bemühte sich auch Necmi, das Schweigen zu brechen, das sonst vielleicht zu neuer Besorgnis geführt hätte. Er schaute seine Mutter an.
»Ja wo bleibt denn nun der Tee? …«
Die Worte zeigten sofort Wirkung. Mutter und Sohn kabbelten sich wie zwei Eheleute. Man konnte sagen, daß Fatoş Abla diese Szene sehr gut spielte.
»Der Tee ist fertig, gnädiger Herr! … Auch anderes steht bereit …«
Dann setzte sie das Spiel fort, indem sie aufstand und sagte, sie gehe nun in die Küche. Auch Şebnem erhob sich lächelnd und versuchte anzudeuten, sie wolle mit ihr kommen. Dieser Schritt freute vor allem Fatoş Abla. Alle taten ihr möglichstes, sich an eine Freude zu klammern …
Ich war wieder mit Necmi allein. Wieder versuchten wir zu sehen, zu verstehen. Plötzlich erhob er sich und sagte, er wolle gucken gehen, ob Şebnem ihre Kleidung in den Schrank getan habe. Offen gesagt befremdete mich dieses Verhalten etwas. Ich antwortete aber nichts. Vielleicht rief ihn eine Stimme in jenes Zimmer. Vielleicht erfand er einen solchen Vorwand aber auch, weil er mit mir in diesem Moment nicht sprechen konnte oder wollte. Deshalb schwieg ich und wartete. Er ließ mich nicht lange allein. Nach kurzer Zeit kehrte er zurück. Er wirkte ein wenig bestürzt, ein wenig traurig. An seinen Worten erkannte ich, daß ich mich nicht geirrt hatte.
»Ihr Koffer liegt noch genauso auf dem Bett … Sie hat ihn nicht aufgemacht …«
Jetzt war es an mir, bestürzt zu sein. Dennoch versuchte ich, sowohl mich zu fassen als auch ihn zu beruhigen.
»Laß nur, sie braucht Zeit … Sie kämpft jetzt an einem ganz neuen Ort um die Existenz. Wir wissen nicht wirklich, was sie sieht, was sie fühlt … Alles, was wir für sie tun können, ist, sie fühlen zu lassen, daß wir sie unterstützen …«
Er nickte, um meine Worte zu bestätigen. Wir hätten länger darüber sprechen können. Doch in diesem Moment kehrten die ›Damen‹ mit Tabletts zurück. Auf dem Tablett von Şebnem standen die vollen Teegläser, auf dem Tablett von Fatoş Abla Teller. Als sie ein wenig näher kam, konnte ich sehen, was auf den Tellern war. Die sorgfältig geschnittenen Stücke von suböreği waren sehr appetitanregend. Doch am wichtigsten war der Mosaikkuchen auf dem anderen Teller. Mosaikkuchen, den uns Fatoş Abla früher so oft gemacht hatte … Mosaikkuchen, den ich jahrelang nicht gegessen und deswegen fast vergessen hatte … Sie aber hatte ihn nicht vergessen. Als sie den Kuchen auf den Beistelltisch vor mich hinstellte, lächelte sie. Mit ihren Blicken, die sowohl voll mütterlicher Liebe als auch närrisch und aufreizend waren … Worte waren nicht nötig. Einen Moment lang verloren wir uns in einer langen Geschichte, in vielen gemeinsamen und verheimlichten Gefühlen. Als Necmi den Teller sah, sagte er, seine Mutter habe diesen Kuchen zuletzt an dem Tag gemacht, an dem er aus dem Gefängnis entlassen worden und nach Hause zurückgekehrt sei. Dadurch bekamen die gegenwärtigen Augenblicke zusätzlich noch eine ganz andere, tiefere Bedeutung.
Was danach kam, war weniger wichtig … Kuchen und börek wurden gegessen, Tee wurde getrunken, und es wurde geredet. Danach sagte ich, es sei Zeit für mich zu gehen, und ich stand auf. Ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen, daß ich die Mitglieder der neuen Familie nun für sich lassen wolle …
Auf dem Heimweg fand ich viele Gründe zu glauben, wir hätten einen weiteren wichtigen Schritt in unserem Leben getan. Es war nicht so, daß ich mir um Şebnem keine Sorgen machte. Doch ich mußte mir auch sagen, es sei nicht ganz richtig, sich auf diese negative Möglichkeit zu fixieren, jedenfalls im Augenblick. Ja, wir mußten sowohl ihr als auch uns Zeit geben … Das ›Stück‹ würde
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