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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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des Vergessens in die Arme der Frauen zu werfen. Ich war schnell fertig. Es gehörte zu den Bräuchen dort, daß man schnell fertig war. Necmi war noch nicht aus dem Zimmer gekommen. Nach kurzer Zeit hörte man Geschrei. Die Frau von Necmi schrie wütend: »Hau ab, Mensch, du Hurensohn!« War ihr bei diesen Worten bewußt, welchen Beruf sie selbst ausübte? … Anscheinend war sie sehr wütend, sie sagte, was ihr gerade einfiel, und schien ihren reichen Schatz an Beschimpfungen vorführen zu wollen: »Du tollpatschiger Stricher! Wenn du keinen hochkriegst, wozu kommst du dann her, Brille! Mensch, wichst ihr etwa, ehe ihr hierherkommt?«
    Es gab ein Getümmel. Während die Frau schrie, stolperte Necmi hastig die Treppe runter, wobei er versuchte, seine Kleidung zu ordnen, seine Hosenknöpfe zuzuknöpfen. Der Zuhälter, der an der Tür stand, setzte sich in Bewegung und ebenso ein paar andere Gäste. Das Gesicht von Necmi war hochrot. Er zog mich am Arm und konnte nur sagen: »Hau ab!« Wir rannten zuerst aus dem Haus, dann durch die Gasse, danach den steilen Yüksekkaldırım sozusagen im Laufschritt hoch bis zur Haltestelle Tünel, wo wir den erstbesten Trolleybus nahmen und uns unter die Menge von Beyoğlu mischten. Das war eine Zeit, als die Istiklâl Caddesi noch nicht Fußgängerzone war und die Oberleitungsbusse sich noch nicht von Istanbuls Straßen verabschiedet hatten …
    Auf der Fahrt sprachen wir nicht ein Wort. Am Taksimplatz stiegen wir aus und liefen, wieder wortlos, bis zum Café Cennet Bahçesi. Wir waren sehr gerne dort. Dieses Café in Gümüşsuyu gehörte zu den Ecken, von denen aus man die Stadt am schönsten sah. Nachdem wir uns bei frisch gebrühtem Tee ein wenig beruhigt hatten, erzählte Necmi, was passiert war. Die Frau schien sich selbst satt zu haben. Ohne auch nur den Büstenhalter auszuziehen, hatte sie ihr rotes Unterhemd hochgezogen, den Schlüpfer abgestreift, sich mit ausgebreiteten Armen aufs Bett gelegt und gesagt: »Los, mach schon!«, wobei sie geräuschvoll Kaugummi kaute. Bei diesem Anblick war sein Verlangen plötzlich erloschen, und danach konnte er anstellen, was er wollte, die Lust erwachte nicht wieder, er bekam keinen Ständer mehr. Als die Frau nach einer Weile mit verächtlichen Blicken frech lächelnd sagte: »Na, was ist denn? Er steht dir wohl nicht!«, gab er zurück: »Du hast ihn nicht hochgekriegt! … Obwohl jeder dich für eine Nutte hält, wenn er dich sieht! …« Damit nicht genug, hatte er sein Geld zurückverlangt. Die Frau war natürlich vor Wut außer sich. Ich konnte mich vor Lachen nicht mehr halten. Ich lachte buchstäblich Tränen, ein wenig auch unter dem Eindruck der erlebten Anspannung. Auch Necmi begann zu lachen. Er wußte, was er getan hatte. Als er jedoch hinzufügte: »Es tut mir nicht leid um das nutzlos ausgegebene Geld. Ich bin wahrscheinlich ausgerastet, als sie mich Brille nannte …«, wurde ich still und war sehr betroffen. Necmi hatte sechs Dioptrien, und ich wußte nur zu gut, mit welchem Schmerz und Unbehagen er zeitweilig seine große Brille mit dem schwarzen, dicken Rahmen trug. Ich hatte keine Brille, aber in mir gab es ein tief eingeprägtes Wissen und eine Geschichte in bezug auf das Erleben von Andersartigkeiten und Häßlichkeiten …
    Doch Necmis Empörung rührte nicht allein daher … Er war auch sehr verletzt, daß eine Frau, die vom Leben schon derart geohrfeigt worden war, so unbarmherzig, gemein und völlig verständnislos für seine Lage sein konnte. Damals kamen wir aber nicht auf die Idee, daß jene Frau ihre Wut auf wer weiß wen gegen ihn richtete, weil ihre Kraft nur bis dahin reichte, ja, daß sie als Antwort auf das Gesagte auf eine andere Weise weinte. Wir konnten uns nicht denken, daß jeder Mensch seinen eigenen Aufschrei hat, und auch nicht, daß Menschen, die mit ihrem Leid und ihrer Einsamkeit nicht zurechtkommen, bewußt oder unbewußt andere verletzen …
    Letzten Endes diente jener Tag aber dazu, unsere Freundschaft mehr zusammenzuschweißen … Von dem Tag an ging Necmi nicht mehr ins Bordell. Und er bemühte sich, auch mich davon abzuhalten. »Wenn wir kein Mädchen haben, wichsen wir halt! Da mußt du wenigstens nicht zeigen und beweisen, daß es dir gelingt …«, sagte er einmal. Im Grunde wich er aus. Ich beteiligte mich ebenfalls an diesem Ausweichen, indem ich die Aussage entspannend und glaubhaft fand. Davon abgesehen, widersprach es den Moralvorstellungen eines Revolutionärs, solche Orte

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