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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Schornsteinen der alten Wohnhäuser kam, gehörte zu den unvergeßlichen Bildern unserer Nächte. Wir redeten mit den Hausmeistern, die nach Mitternacht riesige Kohlebrocken zerschlugen, welche von Lastwagen vor den Appartementhäusern abgeladen worden waren, und die Kohle in die Keller hinuntertrugen; wir riefen auch den Straßenjungen, die in geheimen Ecken mit Karten um Geld spielten, Sätze zu wie »Na wie läuft's denn, Leute?« oder »Hast du einen Grand auf der Hand?«. Oder wir quatschten die Zeitungshändler an, die die Frühausgaben verkauften. Für gewöhnlich kauften wir ganz aufgeregt Zeitschriften mit nackten Frauen, obwohl die Bilder von Druckerschwärze wie beschmiert aussahen. Sogar die ärgerlichen Sternchen auf den Brustwarzen der Frauen konnten nicht verhindern, daß wir ziemlich scharf wurden.
    Wenn wir dann nach Hause zurückkehrten, verzog Necmi sich auf die Toilette und wichste beim Anblick jener Bilder. Besonders dann, wenn er überzeugt war, daß seine Mutter es mit anderen Männern trieb, gab er sich dieser Beschäftigung nachdrücklich hin. Kam die Reihe an mich, zog auch ich mich manchmal an diesen Ort zurück und versank in der Glut meiner Phantasien, doch zog ich es vor, diese sehr persönliche Art der Sexualität, die man uns unter dem Einfluß jener Feigheit, Primitivität und letztlich Nutzlosigkeit der blindlings und lieblos vermittelten Sittenregeln als Schuld einreden wollte, in der Vertrautheit meines Zuhauses zu erleben. Weil ich es nicht anders gewohnt war, versteckte ich voll unvermeidlicher Aufregung jene Hefte zwischen meinen Büchern und vorzeigbaren Zeitschriften, wobei ich mich von der Angst, erwischt zu werden, nicht befreien konnte. Necmi hatte keine derartige Sorge. Bei ihm lagen diese zotigen Hefte überall in seinem Zimmer herum. Seine Mutter ließ das zu. Manchmal schaute sie aufmerksam jene Zeitschriften an und machte Bemerkungen über die Posen, Blicke und Körpermaße der Frauen. In der einen Hand hatte sie dabei ein Glas mit einem alkoholischen Getränk und in der anderen eine Zigarette der Marke More, die es zu jener Zeit nur auf dem Schwarzmarkt gab. Sie begnügte sich nicht mit Bemerkungen, sondern fragte uns, weshalb uns welche Frauen gefielen, und es machte uns Spaß, wenn sie über unsere Antworten lachte und wir ihren nach Alkohol und Zigaretten riechenden Atem spürten … Ich roch diesen aufreizenden Duft, denn bei unseren Unterhaltungen setzte sie sich direkt neben uns. Meist trug sie einen Morgenrock und saß, wenn man das so sagen kann, ungeniert da, indem sie die Beine weit ausstreckte.
    Necmi schien sich an dieses Verhalten längst gewöhnt zu haben, doch für mich war die Sache damals anders – warum soll ich es verschweigen –, so anders, daß ich es keinem hätte erzählen können. Während nämlich diese Frau, die uns schon damals viele Farben des Lebens auf natürliche Weise zeigte, sich bei diesen Gesprächen mit uns in dieser Weise benahm, obwohl sie die Mutter meines besten Freundes war, weckte sie Phantasien in mir, und ich malte mir viele Male aus, daß sie unter ihrem Morgenmantel ohne Unterwäsche, nur mit einem kurzen Satinnachthemd bekleidet wäre und mir zuflüsterte, sie wolle mit mir leidenschaftlich Liebe machen, es mich lehren … Las sie meine geheimen Wünsche in meinen Blicken? Zweifellos. Doch das Gefühl wurde dort begraben, wo es gefühlt wurde.
    Für Necmi war es irgendwie Schicksal, als Jugendlicher in solch einem Leben aufzuwachsen, wo er die Last seiner Problematik einerseits selbst trug, aber auch ungewollt andere damit belastete. Ein Schicksal, dessen Schatten ich seit den ersten Schritten sah, die wir aufeinander zu taten … Seine Ankunft bei uns, in unserer Schule beispielsweise, war in meinen Augen ›pompös‹ … Wir waren im Gymnasium im zehnten Schuljahr, das vor fünf, sechs Wochen begonnen hatte. Eines Tages sahen wir ihn in unserer Klasse in einer der hinteren Bänke sitzen. Er war ruhig, ernst und wirkte äußerst selbstbewußt. Seine Geschichte, die uns alle begeisterte, sollten wir einige Tage später in einer der langen Mittagspausen erfahren. Er war von einer Schule geflogen, die sich ihrer Disziplin rühmte und deren Namen er nicht mehr erwähnen wollte, und weil unsere Schule nahe bei seinem Haus lag, hatte er sich hier einschreiben lassen. Um genau zu sein, war auch der Grund für seinen Schulverweis ›pompös‹. Er hatte der jungen Chemielehrerin, die immer ganz kurze Röcke trug und deren

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