Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Beine alle Jungen von unten bespiegeln wollten, eine saftige Ohrfeige verpaßt, als sie ihn wegen Abschreibens bei einer Prüfung aus dem Klassenzimmer verweisen wollte! … Eindrucksvoll war auch, wie er während der ausführlichen Beschreibung des Vorfalls mit stolzem Lächeln sagte: »Die Frau flog in die eine Richtung, ihre Brille in die andere, verdammt!« Nicht mal der Literaturlehrer, der von seinen Aufsätzen begeistert war, hatte ihn mehr retten können. Er ging zum zweiten Mal in die zehnte Klasse, weil er es geschafft hatte, in neun Fächern durchzufallen. Seine Akte war reichlich dick, er hatte viele Einträge, Schulstrafen, und er hatte unter anderem die ›Begabung‹, die disziplinarischen Regeln einer Schule sehr gut kennenzulernen, zu beobachten und zu erforschen …
An jenem ersten Tag in unserer Klasse wußten wir das alles noch nicht. Doch begann die Darbietung schon ganz von allein, wie um das später Erzählte anzukündigen … Seine erste Stunde bei uns war Literatur … Eşref Bey war ein ausgezeichneter Literaturlehrer, doch zugleich bekannt wegen seiner Strenge. In Wirklichkeit hatte er auch eine väterliche Seite, die uns allen Sicherheit gab. Doch wegen jener unvorhersehbaren, irgendwann bei irgendeiner Störung auftretenden Strenge nahmen wir uns vor ihm in acht. Als er Necmi kurz nach Stundenbeginn erblickte, rief er ihm vom Pult aus lächelnd und ein wenig auch herausfordernd zu: »Dich hat es wohl neu hierherverschlagen!« Sowohl die Stimme als auch die Blicke des Lehrers bestätigten nur zu sehr den Eindruck, den der neue Mitschüler auf uns machte, und es schien, als sollten wir wohl recht behalten. Ein leichtes Lachen verbreitete sich in der Klasse. Wir wußten noch nicht, welches Unheil der Neue schon auf sich gezogen hatte und wie gefährlich er deswegen sein würde, doch schien er auch nicht zu wissen, welche Gefahr ihm von Eşref Bey drohte. Weil er das nicht wußte, erhob er sich zur Antwort auf diese Worte ein bißchen rowdyhaft und konterte: »Herr Lehrer, unsereins ist ein Opfer des Schicksals … Einmal ist man halt gefallen … Das ist eine lange Geschichte …«
Eine neue Welle leiser Belustigung ging durch die Klasse. Eşref Bey verharrte zwischen Lächeln und Strenge, um genau zu sein, schwankte er zwischen beidem, und um anzudeuten, daß der Unterricht schon viel früher begonnen hatte, sagte er in ironischem Ton: »Du hast dich wohl ein wenig verspätet.«
Necmi antwortete darauf mit der gleichen Abgebrühtheit: »Das wird sich schon geben, Herr Lehrer, die Ordnung wird sich schon wieder einpendeln! …«
Das Kichern in der Klasse wurde hörbarer. Auf diese Worte hin konnte Eşref Bey nicht neutral bleiben. Er fragte in herausforderndem Ton: »Warum haben der Herr dann geruht, uns die Ehre zu erweisen?«
Necmi blickte mit großem Ernst, als wollte er eine wichtige Erklärung abgeben, zuerst in die Klasse und dann auf Eşref Bey und sagte: »In meiner alten Schule habe ich mich mit der Schulleitung nicht verstanden!«, woraufhin ein großes Gelächter ausbrach. Auch Eşref Bey lachte oder versuchte vielmehr, sein Lachen so gut wie möglich hinter seinem Erstaunen zu verbergen, und brachte nur heraus: »Da schau einer an!«
Solch einen Einstieg verschaffte sich also Necmi in dem von allen gefürchteten Fach. In den folgenden Tagen zeigte er uns noch besser, wer in unsere Mitte gekommen war. Auch in anderen Stunden führte er sich ähnlich kühn auf. Einige liebten ihn sehr wegen seiner Offenheit, andere jedoch, das war klar, sannen auf Rache für seine Worte und sein Benehmen, weil sie fühlten, wie die Autorität unrettbar erschüttert wurde. Doch letzten Endes konnte niemand gegenüber seinem Verhalten und seinem Kampf gleichgültig bleiben. Denn in seinen Widersetzlichkeiten lag nicht nur das Streben nach Aufmerksamkeit für seine Existenz, sondern auch das Bemühen, andere ihre Existenz mit anderen Augen sehen zu lassen. Er besaß sogar die Kühnheit, zu uns und vielen unserer Lehrer ganz offen von Revolution zu sprechen und dem ebenfalls für seine Strenge bekannten Geschichtslehrer zu widersprechen, der die sinnlose These der damaligen Rechtsradikalen verteidigte und uns vortrug: »Die Finger einer Hand sind nicht eins, darum können die Menschen auch nicht einig und gleich sein.« Manchmal waren wir im Zweifel, ob dieser Lehrer, der bei jeder Gelegenheit über die ›versklavten Türken‹ in der Sowjetunion Reden zu halten wagte und der es wohl als
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