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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Wir wollten uns im Billardsalon treffen, dort ein bißchen herumhängen und dann zu Fuß zum Stadion gehen. Die Abmachung wurde selbstverständlich eingehalten. Als der Unterricht begann, waren wir alle da. Unsere Taschen ließen wir wie immer an einem versteckten Platz. Nach dem Spiel wollten wir zurückkommen, unsere Taschen abholen und zu Hause sagen, wir hätten noch nachsitzen müssen, um unsere Verspätung zu erklären. Der Besitzer des Salons, Recep Abi, war eingeweiht. Wir vertrauten ihm. Er erschütterte unser Vertrauen nie. Manchmal sagte er, wir sollten unseren Unterricht ernst nehmen, er gab uns auf seine Art Ermahnungen, doch wie sehr er selbst an seine Worte glaubte, weiß ich ehrlich gesagt nicht.
    Nicht nur Yorgos, auch Varujan spielte gut Billard. Als ich in den Salon kam, fand ich sie vertieft ins Spiel um das Billett für das Fußballspiel. Es war Yorgos' Tag. Er hatte schon sechsunddreißig Punkte. Und es schien, als würde es so weitergehen. In so einem Zustand war er völlig aufs Spiel konzentriert, und wenn Krach gemacht wurde, konnte er sich sehr aufregen. Das war damals halt so. Varujan zog ein Gesicht. Ihm war klar, daß er verlieren würde. Doch auch er war unbestreitbar heimlich von Yorgos fasziniert. Gerade als Yorgos einen schwierigen Stoß vorbereitete, versetzte uns Necmi plötzlich in höchste Alarmbereitschaft, als er flüsternd, als wollte er uns vor einer ernsten Gefahr warnen, sagte: »Wir sind erwischt worden!« Es fiel uns nicht schwer, zu erkennen, was Sache war. Die Gefahr war an der Tür. Dort stand der Direktor und schaute uns mit einem vielsagenden Lächeln an. Als ihn die Nachricht erreicht hatte, sechs der ›üblichen Verdächtigen‹ seien nicht im Klassenzimmer, hatte er anscheinend keine große Mühe gehabt, eins und eins zusammenzuzählen. Wir wußten natürlich nur zu gut, was uns jetzt blühte, doch trotz all unserer Abgebrühtheit standen wir wie versteinert an unseren Plätzen. Nur Yorgos hatte noch nicht gemerkt, was los war. Er war derart auf seinen schwierigen Stoß konzentriert …
    Der Direktor näherte sich dem Ort des Geschehens lautlos und langsam mit einem unverhüllten Siegerlächeln im Gesicht und machte uns ein Zeichen, still zu sein. Er hatte die Fäden in der Hand. Wir waren erwischt worden und nicht fähig, groß zu widersprechen. Daß wir der Strafe nicht entrinnen würden, war uns sonnenklar. Auch waren wir gefangen von seiner geistreichen, liebenswürdig strengen Art, wie er sie in ähnlichen Situationen oft bewiesen hatte. So verging ein Augenblick, doch Necmi tat wieder das Erwartete, indem er sich nicht länger an das Sprechverbot hielt und zu Yorgos, jetzt mit lauterer Stimme und in der ihm eigentümlichen Weise, sagte, der Direktor sei gekommen, uns zu besuchen und zu inspizieren. Dabei nannte er, so als ob wir untereinander redeten, bloß den Vornamen des Direktors … Yorgos, der sich auf seinen Stoß vorbereitete, schnallte die Situation immer noch nicht und antwortete auf die Warnung bloß spontan mit: »Scheiß drauf!«
    Der Direktor stand inzwischen am anderen Ende des Tisches ihm gegenüber. In diesem Moment schauten sie einander in die Augen. Der Anblick von Yorgos, sein Gesichtsausdruck waren wirklich sehenswert. Den Queue in der Hand, in Stoßposition, blieb er wie versteinert stehen. In dem Moment hätten wir alle loslachen können. Doch uns war nicht zum Lachen zumute. Nur zu gut wußten wir aus Erfahrung, wohin wir anstatt des Fußballspiels gehen und was wir dort machen würden. Wäre es dabei geblieben, daß wir nur in die Schule zurück- und mitten in der Stunde wie begossene Pudel ins Klassenzimmer treten mußten. Doch wie erwartet kam dazu noch das Nachsitzen am Nachmittag bis sechs Uhr. Diese Strafen kannten alle, die mal die französischen Schulen besucht haben. Der Name dieser Strafe war ›retenue‹, das bedeutete ›Zurückgehaltenwerden‹, also Nachsitzen. In dieser Zeit ließen sie einen auf jeden Fall auch eine Schreibarbeit machen. An dem Tag mußten wir in Schönschrift, in Kalligraphie, zweitausend Zeilen schreiben. Und zwar auf französisch! … Genauer gesagt, selbstverständlich auf französisch. Necmi schrieb einige Male zwischen die Zeilen auf türkisch: »Ich scheiße auf so eine Schule!« Doch der ›frère‹, der an diesem Tag Aufsicht hatte, war so alt, daß er sich selbst nicht im Spiegel erkannt hätte, und er konnte nicht gut Türkisch. Hätte er das Geschriebene entziffert, dann wäre es mit

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