Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
ihr Ansehen noch. In unserer Generation waren ›Gras‹ und ›Pillen‹ nicht so verbreitet und ›legal‹ wie heutzutage. Unsere schlimmste Gewohnheit waren Zigaretten, und natürlich war das eine ›Statusangelegenheit‹.
Yorgos war ein meisterhafter Billardspieler. So wie Necmi gehörte er im Literaturunterricht zu den farbigsten Gestalten. Er schrieb schöne Gedichte, und Eşref Bey sagte oft zu ihm, er werde eines Tages ein guter Dichter werden. Auch in der ›Schauspieltruppe‹ hatte er einen besonderen Platz. Er war zwei Jahre älter als wir. Das hatte einen sehr traurigen Grund. Denn dieser Grund hatte ihn in jungen Jahren zu einem Menschen gemacht, der manchmal sehr hart und zugleich sehr empfindsam und reif sein konnte. Wir sahen in ihm deswegen unweigerlich den großen Bruder. Ohne ihn wäre es wohl niemals möglich gewesen, das ›Stück‹ aufzuführen. Während ich, gefangen von diesen Stimmen und Bildern, auf Necmi wartete, wurde ich von einer leichten Welle der Aufregung erfaßt. Ich folgte der Spur einer langen Geschichte … Wie viele Menschen waren es doch, die ich suchte und aufs neue finden mußte … Ich wußte nicht, ob es mir gelingen würde.
Bei dem Versuch, die tief in meinem Inneren verbliebenen Stimmen und Bilder aufzuwecken, tauchte in meinem Gedächtnis auch der Unfall wieder auf, an den ich mich jetzt lachend erinnerte … Die Schule dauerte nicht nur samstags, sondern auch mittwochs nur bis zum Mittag. Dieser unvergeßliche ›Unfall‹ passierte uns an einem solchen Tag. Ich war damals fußballverrückt. Viel stärker als heute. Als wäre es erst gestern, erinnere ich mich, wie ich in zwei aufeinanderfolgenden Spielzeiten alle Spiele von Fenerbahçe auf der Neuen Offenen Tribüne des Stadions, das damals Mithat Paşa hieß, anschaute, ganz egal, ob es schneite, eisig war oder matschig. Wer sich auskennt, hat schon verstanden, von welchem Stadion ich spreche. Es war das spätere Inönü-Stadion. Über diese Namensänderung war ich sehr wütend, doch ich konnte nichts machen. Mit den Namen von Stadien hatte ich sowieso immer ein Problem. Jetzt stört mich genauso der Namen Şükrü Saraçoğlu. Doch wieder kann ich nichts machen. Ich bemühe mich, darüber hinwegzusehen und nicht daran zu denken. Denn die Liebe zu Fenerbahçe steht für mich höher als alle politischen Feindschaften. Damals gab es also noch kein Saraçoğlu-Stadion. Deswegen spielte der Club im Mithat Paşa. Die Seite, die an die numerierten Plätze der Neuen Offenen Tribüne angrenzte, war unsere. Dorthin gingen die meisten fanatischen Anhänger. Man schaute die Spiele stehend an. Der Komfort war gleich Null. Auf den numerierten Plätzen war es ein bißchen anders. Man mußte nicht fünf, sechs Stunden vorher hingehen, um reinzukommen. Außerdem konnten die Anhänger von Fenerbahçe und Galatasaray sogar nebeneinandersitzen, wenn die Ovationen nicht ausuferten. Ist das nicht erstaunlich? … Aber das hat es wirklich gegeben … Oder … Oder hat es das nicht gegeben, nur ich erinnere mich jetzt so daran? … Leider läßt der Zustand, den wir heute erreicht haben, uns so eine Frage stellen … Als hätten wir ein anderes Land an einer anderen Stelle zurückgelassen … So wie wir es auch mit unseren anderen Werten gemacht haben … Als machten wir Rückschritte im Ausleben unserer Bindungen … Nun gut, lassen wir auch das …
Jetzt ist es viel richtiger und amüsanter, mich an jenen ›Unfall‹ zu erinnern, der uns eines Mittwochs wegen unserer Fußballeidenschaft passierte … Fener und Galatasaray kämpften im Halbfinale um den Türkei-Pokal. Damals spielte man tagsüber … Wir beschlossen, alle zusammen zu dem Spiel zu gehen. Wir alle gemeinsam … Es gab nämlich auch einige in unserer Gruppe, deren Vereinsfarben wir nicht mochten. Doch gehörte dieser Kontrast – es ist schwer zu sagen, wieweit wir uns dessen bewußt waren – wahrscheinlich zu den buntesten Aspekten unserer Gemeinschaft. Ich kann mir anders nicht erklären, daß sich Streit zwischen uns meistens aus Fußballgesprächen entwickelte. Ich, Necmi und Niso waren Anhänger von Fener, jederzeit bereit, uns gegenseitig zu unterstützen. Yorgos, Şafak und Varujan jedoch waren unsere Galatasaray-Fans. Obwohl wir an jenem Tag auf numerierte Plätze wollten, mußten wir früh zum Spiel hingehen, weil wir sonst vielleicht keine Karten mehr bekommen hätten. Darum schwänzten wir die Schule. Natürlich gingen wir von zu Hause los wie gewöhnlich.
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