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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Verdienst ansah, sich stets seiner nationalen Gesinnung und seines Konservativismus zu rühmen, nicht Beziehungen zu einer Geheimdienstorganisation hatte. Wenn Necmi ihm mit lauter Stimme, ja schreiend widersprach mit den Worten »Sie betreiben Demagogie und lügen! Vergleichen Sie nicht Menschen mit Fingern. Wir sprechen hier von sozialer Gerechtigkeit!«, dann erforderte das unter den Bedingungen der damaligen Zeit großen Mut.
    Necmis Widerworte, die ihn vielen Menschen entfremdeten, brachten ihn nicht nur uns näher, sondern unweigerlich auch Eşref Bey. Diese Annäherung war nicht unverdient. Necmi schrieb aufgrund seines guten Stils und seines Wissens, das von der Lektüre vieler Bücher herrührte, tiefgründige Aufsätze, die wir alle bewunderten. Auf den Gängen und im Lehrerzimmer sprachen Lehrer und Schüler lange allein miteinander. In diesen Gesprächen sah ich manchmal auch die Blicke eines Vaters auf seinen Sohn. Blicke eines Vaters, die manchmal ermutigten, unterstützten und den Weg wiesen, manchmal tadelten … Ich kannte inzwischen auch die Geheimnisse jener Wohnung in Teşvikiye. Da war es nicht so schwer für mich, bestimmte Verbindungen herzustellen. Denn ich wußte auch, daß Eşref Bey trotz all seiner Träume und Erwartungen eine sehr geliebte Frau nicht hatte heiraten und von ihr kein Kind hatte bekommen können. Sie versuchten vielleicht unbewußt, beieinander ein Gefühl zu finden, das das Leben ihnen vorenthalten hatte … Ich entschied mich erneut, die Trauer und zugleich die Lebensfreude, die von dem, was ich sah, ausgelöst wurden, für mich zu behalten und in mir zu bewahren. Dieses Gefühl gehörte mir. Darüber zu sprechen wäre womöglich gleichbedeutend gewesen mit der Zerstörung des Zaubers. Dazu hatte ich kein Recht. Es passiert ja, daß manches Verleugnete eines Tages derartig wirklich wird … Das einzige, was mich angesichts dieser Bilder leiden ließ, war, daß ich mich zeitweise ausgeschlossen fühlte. Einerseits von meinem engsten Freund, andererseits von meinem liebsten Lehrer … Offen gesagt war ich eifersüchtig. Dann stellte ich mir vor, was Necmi und ich in jenen Nächten geteilt hatten. Das waren die Zeiten, die uns gehörten …
    Es gab mehrere Gründe, warum wir uns innerhalb kurzer Zeit so stark verbunden fühlten und eine so haltbare Brücke zwischen uns entstand. Ein Grund waren die Bücher, die wir lasen, und der Enthusiasmus, den sie in uns entfachten. Die meisten dieser Bücher standen auf dem staatlichen Index. Es war ein bißchen auch die Faszination der Heimlichkeit und des Protests. Zwar waren die übrigen Mitglieder der ›Truppe‹ ebenfalls enthusiastisch. Niso und Yorgos glaubten genauso an diesen Kampf … Nicht umsonst fragten wir, als Eşref Bey in einer Stunde Tevfik Fikret durchnahm, warum wir nicht die Gedichte von Nâzım Hikmet läsen. Wir bekamen natürlich einen Tadel zu hören. Doch eigentlich dachte auch er wie wir. Leider mußte in unserer Zeit damals in der Klasse das Spiel in dieser Art gespielt werden. Wir waren in der Türkei der 70er Jahre … Man konnte nicht erwarten, daß wir mehr taten …
    Doch daß sich die Freundschaft mit Necmi so sehr vertiefte, kam nicht bloß aus jener Begeisterung. Es gab noch einen sehr wichtigen Grund, daß wir häufiger beisammen waren. Wir hatten beide bei den Mädchen wenig Glück, eigentlich überhaupt kein Glück. Denn wir hatten beide in Hinblick auf die gängigen Vorzüge keine anziehenden Eigenschaften. Es dauerte sehr lange, bis ich damit fertig wurde. Die Menschen sind bei diesem Thema sehr grausam, sie sind gegenüber Andersartigen oder Möglichkeiten, die sich aus anderen Schönheiten ergeben können, immer sehr verschlossen beziehungsweise immer zu ängstlich, etwas zu wagen, was die Mehrheit nicht akzeptiert. Aus diesem Grund näherte ich mich im Laufe der Zeit dem Gedanken, es gäbe einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen Erfolg und Unglücklichsein. Um diese Wahrheit verstehen zu können, muß man diese Hölle jedoch erleben. Die ›Hölle‹ waren nicht allein ›die anderen‹, sondern oft auch unser eigenes Leben, in das wir verstrickt waren …
    Mehrmals gingen wir zusammen ins Bordell. Einmal wären wir fast verprügelt worden. Wir waren aufgeregt in eine der langen Gassen eingeschwenkt, die vom Yüksekkaldırım steil abwärts abzweigen, und in einem der nach hamam riechenden Häuser waren wir zu den Zimmern gegangen, die man uns genannt hatte, um uns für ein paar Augenblicke

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