Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
schaute weiter herum und lächelte. Als könne er nichts sagen. Wahrscheinlich war er ebenfalls in Gedanken abgeschweift. Als er antwortete, waren seine Blicke noch immer dort, wohin er versunken war.
»Das paßt mir … Ich habe kein Auto …«
Dann wandte er sich mir zu. Es wirkte so, als bemühte er sich, sein Lächeln nicht zu verlieren, als er fortfuhr: »Und auch keinen Führerschein …«
Es war offensichtlich, daß seine letzte Erklärung einen Hinweis enthielt. Ich schaute ihn an und suchte zu verstehen. Er ließ mich nicht lange warten. Er zog leicht die Sonnenbrille, die er bisher nicht abgesetzt hatte, nach unten. Sein rechtes Auge war geschlossen. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, doch konnte ich nicht verhindern, daß mein Erschauern sichtbar wurde. Der Anblick hatte mich unerwartet getroffen. Er bemerkte es. Wiederum lächelnd gab er eine Erklärung, die noch ergreifender war.
»Du vermutest richtig … Ich habe das Auge schon vor Jahren verloren … Ich erzähl's dir später, los komm …«
Er rückte die Sonnenbrille zurecht und zog mich zur Tür, wobei er leicht meinen Arm drückte. Er schien uns beide nach draußen ziehen zu wollen. Vielleicht hatte er genug von dem, was er hier gesehen hatte. Vielleicht langweilte ihn alles nach kurzer Zeit wegen der Dinge, die er erlebt hatte. In dem Moment fiel mir wieder ein, daß er Fremdenführer war. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er die Menschen an den historischen Stätten herumführte. Und das machte mich wieder traurig. Ich konnte es nicht ändern. Ich wollte unbedingt erfahren, wo der alte Necmi hingegangen war, wo und wie er verlorengegangen war … Doch ich schwieg. Ich schwieg wieder. Diese Geschichte hob ich mir für die späteren Stunden des Abends auf. Seine Augen hatten mich sowieso ins Grübeln gebracht. War es lange her, daß er diesen Verlust erlitten hatte? … Er wirkte, als sei er mit sich in Frieden. Es war, als hätte er dieses Auge wie eine Wunde zeigen wollen, die sich schon lange geschlossen hatte. Doch er hatte sie gezeigt, er hatte sofort den Wunsch gespürt, sie zu zeigen. Auch das war zweifellos wichtig. Es war der zweite wichtige Hinweis auf sein Leben, den er innerhalb von wenigen Minuten gab. War er im Laufe der Jahre von jenem äußerst verschwiegenen Menschen zu einem geworden, der begeistert seine innere Welt offen zur Schau stellte? … Oder … Oder war dieses Verhalten, waren diese Posen sämtlich Teil eines Spiels? … Vielleicht versteckte sich hinter dieser Selbstdarstellung, diesem Spiel des Sich-Zeigens ein tiefsitzender Zorn … Meine Vermutungen behielt ich für mich. Denn ich wußte, wir würden über kurz oder lang zu diesen geheimen Stellen seiner Lebensgeschichte gelangen. Wir würden genügend Zeit haben, um über alles zu sprechen. Um zu reden, zu erzählen, zu verstehen und zuzuhören …
Aber da ich sowieso gerade mit kleinen Spielen aufgefordert worden war, uns gegenseitig neu kennenzulernen und zu verstehen, konnte ich auch auf die Wunde eingehen, in der Hoffnung, sowohl mir als auch ihm unsere Nähe noch einmal spürbar zu machen. Ich fühlte mich gedrängt, etwas zu sagen.
»Mit deinem einen Auge wirst du nicht mal mehr Pingpong spielen können! …«
Er lachte. Dann wurde er betroffen. Und plötzlich sah ich, wie in seinem Gesicht jener alte Ausdruck von Durchtriebenheit aufschien, nach dem ich mich so sehr gesehnt hatte. Seine Antwort war ganz von der zu ihm passenden ›Beschaffenheit‹ …
»Dein Nicht-mehr-spielen-Können kannst du dir in den Arsch stecken! Mensch, ich habe dich doch immer besiegt, du Idiot! Wenn's sein muß, besiege ich dich auch heute noch! …«
Diese Antwort genügte mir, jedenfalls für den Augenblick. Nach dieser aufrichtigen Wut hatte ich mich sehr gesehnt … Er hatte mich tatsächlich oft besiegt, zumindest meistens, und wenn er selten einmal eine Niederlage einstecken mußte, war er sehr wütend geworden. Das war die schönste Seite des Spiels. Seine Flüche, sein Verhalten bei verlorenen Punkten. Dafür hatten wir immer weitergespielt. Der Sinn des Spiels war sowieso nicht, seine Kunst zu zeigen, sondern sich zu amüsieren. Als ich ihn einmal fragte, von wem er dieses Spiel so gut gelernt hatte, sagte er: »Vom schwulen Mihal! … Wäre er schlau gewesen, hätte er türkischer Meister sein können … Aber er wurde lieber Schuster.« Mehr wollte er darüber nicht sagen. Hatte er sich das ausgedacht? … Ich glaube ja. Denn lange Zeit später
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