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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Befürchtungen.
    »Ich mache halt den Fremdenführer … Gerade sind wir in der toten Zeit. In ein, zwei Monaten fange ich an, irgendwohin zu fahren. Doch allmählich nehme ich nicht mehr so viel Arbeit an wie früher. Eine Weile habe ich wie ein Verrückter gearbeitet. Ich will nicht undankbar sein, ich habe wirklich ordentlich Geld gemacht. Doch auch jetzt verdiene ich noch gut …«
    Hier hielt er inne, er konnte nicht weiter. Vielleicht wollte er nicht weitersprechen. Sicher war ihm bewußt, daß ich eine andere Antwort erwartet hatte. Er kannte mich. Wir kannten einander. Wir wußten, daß wir ganz sicher nicht zusammengekommen waren, um nur das zu besprechen. Ich schaute ihn lächelnd an, ohne zu antworten. Es war unmöglich, daß ihm mein Lächeln entging und daß er es nicht verstand. Daraufhin fuhr er fort, als wollte er den Weg zu unserem eigentlichen Gesprächsthema eröffnen. Als wollte er auch mich dorthin einladen …
    »Gut, ist in Ordnung … Ich werde dir erzählen, soweit das möglich ist … Aber du mußt auch erzählen, einverstanden? …«
    Ich nickte wieder lächelnd und machte eine Geste, als wollte ich ›selbstverständlich‹ sagen. Mit dieser Bewegung wollte ich auch andeuten, ich werde ihm den Grund verraten, weshalb ich ihn aufs neue in mein Leben gerufen hatte. Ich zweifelte nicht, daß ich ihm mein Gefühl mitgeteilt hatte. Daraufhin bereitete er sich vor, das Erzählbare zu erzählen. Ich konnte diese Vorbereitung sehen. Deshalb schwieg ich weiter und versuchte zu lächeln. Gleichzeitig versuchte ich meine Aufregung zu verbergen, ich wollte nicht, daß womöglich meine Worte, meine Stimme den Zauber seiner Versenkung in die Vergangenheit zerstörten. Er nahm noch einen kleinen Bissen von dem Fisch. Wieder kaute er ganz langsam. Endlich öffnete sich die Tür zu seiner Erzählung.
    »Du weißt ja, daß meine Punktzahl bei der Eingangsprüfung für das Studium der Politikwissenschaft ausreichte. Du weißt auch, daß ich mit großer Begeisterung nach Ankara gegangen bin …«
    Das wußte ich. Wieder nickte ich und entschied mich, nicht zu sprechen. Deswegen entging mir das Zittern in seiner Stimme nicht, das er zu unterdrücken, zu verschleiern versuchte. Kam dieses Zittern daher, daß er endlich ein Geheimnis oder etwas, woran er sich nicht gerne erinnerte, mitteilen wollte, oder wegen der Finsternis seiner Geschichte? … Es war schon bedeutsam genug, daß ich diese Frage zu stellen das Bedürfnis hatte. In diesen Augenblicken hatte ich keine andere Wahl, als zu glauben, daß mein Schweigen und Zuhören uns an einen besseren Ort bringen würden. Überdies begann auch ich bei diesem Anblick innerlich zu zittern. Es war besser, ihn bei seiner Rückbesinnung möglichst in Ruhe zu lassen. Er ließ mich sowieso nicht lange warten.
    »Schon bald war ich mitten im politischen Kampf. Das Umfeld war bereit, ich ebenfalls. Ich stürzte mich voll in Arbeiten für die Organisation, Demonstrationen, Versammlungen, Aufmärsche, Zusammenstöße, Drucksachen. Und zwar in einem Ausmaß, daß ich nach einer gewissen Zeit nicht mehr zurückgekonnt hätte, selbst wenn ich gewollt hätte … Ich wollte ja sowieso gar nicht zurück … Nach einer Weile rückte ich an eine wichtige Stelle in der Organisation, ich übernahm gefährliche Aufträge, trug die Verantwortung für viele Menschen … Diese Verantwortung führte zeitweilig zu großen Spannungen … Doch ich beklage mich nicht. Ich hatte mich dafür entschieden. Ich glaubte ja an die Revolution …«
    Er stockte wieder. Ich suchte seine Blicke, die irgendwohin wanderten und versanken … Nur so konnte ich meine Liebe zu ihm ausdrücken. Auf unserer Reise in die Vergangenheit würde es auch Stellen, Bilder geben, wo wir innehalten mußten, das fühlte ich. Ich fühlte auch, daß wir auf eine Katastrophe zusteuerten. Ich hatte Angst vor dem, was ich zu hören bekommen würde. Doch wir hatten nun einmal begonnen und konnten nicht umkehren. Ich war entschlossen, alles zu tun, damit er fortfuhr. Es gab nur eine Frage, die in diesem Augenblick erwartet wurde.
    »Und was geschah dann?«
    Er schaute aufs Meer. Als er meine Frage beantwortete, war in seiner Stimme kein Groll. Vielleicht Enttäuschung. Ein Sich-Abfinden oder eine Weisheit, die aus dem Sich-Abfinden hervorgegangen war … Ein jahrhundertealter Spruch kehrte an unseren Tisch zurück und gewann durch unsere Erlebnisse eine tiefere Bedeutung: Ein Leben ohne Prüfung gilt nicht als gelebtes Leben

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