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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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sehr dieser Stoß wirklich dem brasilianischen Original ähnelte, aber diese Freistoßtore haben wir nicht vergessen können. Doch in dem Moment, genau in dem Moment, senkte sich eine andere Traurigkeit auf uns beide. Damals war Niso mit dabeigewesen … Wir waren ein unzertrennliches Dreigespann gewesen … Und was kam dann? Necmis Worte bezeichneten das, was dann kam, in aller Deutlichkeit und Einfachheit:
    »Das Leben hat uns alle woandershin zerstreut, verdammt noch mal! … Wer hätte sich vorstellen können, das zu erleben, was wir erlebt haben? …«
    Der Tag, an dem ich Niso nach Israel verabschiedet hatte, fiel mir ein. Wir wußten damals nicht, wo Necmi war. Das waren die Tage, wo jeder um anderer Hoffnungen willen seinen eigenen Weg ging. Diese Trennungen waren im Lauf unseres Lebens etwas ganz Selbstverständliches gewesen. Denn unsere Neigungen, Bestrebungen und Hoffnungen riefen uns irgendwohin. Wir waren noch nicht alt genug, an die Lücken zu denken, die durch die Trennungen entstehen würden. In dem Augenblick mochte ich glauben, daß auch Necmi diese Lücken in sich trug. Ich glaubte mich verpflichtet zu einer Erklärung.
    »Niso ist nach Israel gegangen … Seit Jahren habe ich nichts mehr von ihm gehört. Doch es geht ihm wohl gut. Ganz sicher wirbelt er auch dort gehörig Staub auf, der Mistkerl …«
    Er lachte. Wieder gab er eine für ihn und uns typische Antwort: »Dieser Rabbinersohn, dieser kommunistische Saubär! … Du hast recht, er wird auch dort vor den Kollaborateuren und Imperialisten nicht zurückgeschreckt sein! …«
    Diese Worte, die eine sehr tiefe Liebe in sich trugen – das konnte ich leicht sagen, weil ich Necmi und uns kannte –, charakterisierten Niso gut … Wir brachten durch unser Reden über einen unserer Freunde, den wir irgendwo auf dem Weg verloren hatten, nicht nur unsere Liebe, sondern auch unser Vertrauen zum Ausdruck.
    Dann schwiegen wir. Schwieg er genauso wie ich aus Sehnsucht nach unserem Freund, den wir in dem Moment sehr gerne bei uns gehabt hätten? … Das wußte ich nicht. Doch wir schwiegen wieder. Wir aßen ein wenig von unseren Vorspeisen und schwiegen. Dann versuchte er mich zu einem neuen Punkt zu bringen. Es schien, als hätte er meine Erzählung verstanden, gespürt.
    »Wir müssen ihn finden, unbedingt müssen wir ihn finden …«
    Was sollte ich sagen? … Ich war sowieso auf dem Weg dahin.
    »Ich finde ihn, versprochen! Wir bilden ein Gericht und ziehen ihn zur Rechenschaft! …«
    Als er das hörte, breitete sich wieder ein trauriges Lächeln auf seinen Lippen aus. Wortlos hob er sein Glas. Dann stürzte er in einem Zug sein Getränk hinunter, ohne mir die Gelegenheit zu geben, ihm zuzuprosten. Ich war fassungslos. Ja, er trank wirklich viel. Er trank viel und aß wenig. Es schien außerdem, als brauchte er lange, um an die Grenze zur Betrunkenheit zu geraten. Im Laufe des Abends sollte ich noch genauer sehen, wie wenig er aß. Als gefiele es ihm besser, vor dem vollen Teller zu sitzen. Doch dann ließ er auch hiervon ab. Es schien dies der wichtigste Hinweis darauf, daß er längst das Gefühl für Besitz oder die Sorge darum verloren hatte. Vielleicht versuchte er sein Leben zu bestätigen, indem er es von dieser Sorge befreite, vielleicht versuchte er sich selbst zu bestätigen … Diesen Necmi kannte ich ebenfalls nicht. Es war endlich Zeit, daß wir uns persönlicheren, heikleren Fragen zuwandten. Plötzlich befiel mich das Gefühl, wenn ich den entscheidenden Schritt hin auf diese Fragen nicht jetzt sofort tat, würden wir in dieser Nacht nie mehr dazu kommen. Er hatte herrliche gedünstete Geißbrassen bestellt. Als die Platte an unseren Tisch getragen und der Dekkel gelüftet wurde, versuchte ich, den Duft, der uns in die Nase stieg, zu genießen, genauso wie das Behagen über die Sorgfalt, mit der der Oberkellner uns die Fische auf die Teller legte. Ich berührte den Fisch mit meinem Besteck und startete einen ersten Versuch:
    »Was sagst du?«
    Man konnte die Frage in verschiedenem Sinn verstehen. Ich hätte sogar nur den Geschmack des Fischs meinen können. Doch er verstand. Er lächelte wieder, oder vielmehr versuchte er zu lächeln. Er nahm ein kleines Stück Fisch, führte es zum Mund und kaute es langsam. Kurzzeitig senkte sich eine tiefe Stille über den Tisch … Versuchte er, ein wenig Zeit zu gewinnen? … Suchte er die beste Antwort, die ihn verbergen, schützen konnte? … Seine Worte verstärkten nur allzusehr meine

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