Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
…
»Wir haben viele Genossen verloren … Nach Ansicht mancher Leute hatten wir sehr große Schuld auf uns geladen. Dann … Dann mußten wir uns eingestehen, daß wir den Kampf gegen den Faschismus verloren hatten. Das war die Realität, obwohl wir die Organisation waren, die die meisten Anhänger hatte … Auf diejenigen, die am Leben geblieben waren, wartete ein einziger Ort …«
Um was für einen Ort es sich handelte, war nicht allzuschwer zu erraten. Ich hoffte trotzdem auf eine andere Möglichkeit. Ich fragte, ob er nicht zu fliehen versucht hatte. Doch. Seine Geschichte war inzwischen zu einer Geschichte der Angst geworden. Er hatte in meiner Stadt in anderen Häusern mit anderen Erwartungen und Ängsten gelebt … Das Zittern war immer noch in uns. Ich versuchte zu verstehen. Ich sagte mir, daß wir diese Rückkehr in die Vergangenheit nur so erleben konnten.
»Nach dem Putsch gelang es mir, nach Istanbul zu entkommen. In Ankara konnte ich nicht länger bleiben. Ich wurde überall gesucht. Ich wußte, daß ich auch in Istanbul nicht lange würde bleiben können. Es gab keinen anderen Weg, als ins Ausland zu gehen. Wer konnte, ging ins Exil. Unsere Verbindungen waren weitgehend abgeschnitten. Doch wir taten immer noch, was möglich war. Ein Paß wurde vorbereitet. Ich wartete. Ich wohnte bei einem Ehepaar, die Sympathisanten der Organisation waren, doch ich konnte auch dort jederzeit aufgespürt werden. Mir war es sehr unangenehm, daß ich meine Gastgeber in solche Gefahr brachte. Es ging ihnen materiell sowieso sehr schlecht. Der Mann war arbeitslos, tagsüber paßte er auf das dreijährige Kind auf. Die Frau war Grundschullehrerin, und um etwas mehr zu verdienen, gab sie Privatunterricht. Sie versuchten, sich eben aufrecht zu halten. Es war sehr gut, sehr mutig von ihnen, in solchen Zeiten einen Mann wie mich in ihrer Wohnung zu verstecken … Aber wie lange noch konnte ich ihren guten Willen strapazieren? Der Paß kam und kam nicht. Wir schraken sogar zusammen, wenn der Hausmeister klingelte. Ich konnte nicht länger bleiben. Was auch immer passieren würde, diese Warterei war noch schlimmer. Eines Abends nahm ich allen Mut zusammen und ging hinaus, um meine Mutter zu besuchen, wie ich sagte. Ich würde zurückkommen, wenn es möglich war. Meine Gastgeber wußten jedoch, daß ich vielleicht nicht zurückkommen würde. Wir umarmten einander in diesem Bewußtsein. Ich schaute mich um. Die Stadt strömte, das Leben strömte dahin … Ein jeder erlebte seine eigene Erzählung … Sein eigenes Schicksal … Bis zum Haus meiner Mutter war es ungefähr eine Stunde Fußweg. Das Laufen tat mir gut, in dieser Situation mit diesen Gefühlen tat es sehr gut … Vielleicht würde ich lange nicht mehr so laufen können … Ich fühlte, es konnte jederzeit so weit sein, daß ich verhaftet wurde. Ich sagte mir, daß das Haus meiner Mutter ganz sicher unter Beobachtung stand. Aber, wie gesagt, ich war inzwischen so weit, daß ich nicht mehr warten konnte. Ich wollte, daß das ein Ende hatte. Das Versteckspiel, der Albtraum, die Ungewißheit, nenne es, wie immer du willst. Als die gute Frau mich plötzlich vor sich sah, wußte sie vor Überraschung zuerst nicht, was sie machen, was sie sagen sollte. Auch sie wußte, wie gefährlich mein Besuch war. Seit Monaten hatten wir nichts voneinander gehört, trotzdem schien es, als freute sie sich gar nicht, so besorgt war sie. Sie hatte eine Ahnung, worin ich verstrickt war. Ich sagte, ich sei auf einen Kaffee gekommen. Ich würde nicht bleiben, könne nicht bleiben. Sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte. Dann redeten wir lange miteinander … Über unser Heimatland, unser Leben, unsere Träume, Erinnerungen … Worüber man in solchen Situationen eben spricht … Eigentlich war ich gekommen, mir ihren Segen zum Abschied zu holen, doch das konnte ich nicht sagen. Ich wollte nicht, daß sie noch trauriger wurde. Ich sagte nur, daß ich ins Ausland gehen wollte. Sie nickte, um ihr Einverständnis anzudeuten. Danach umarmten wir uns ganz fest. Das war das erste Mal nach so langen Jahren … In so einer Zeit des Abschieds … Ist das nicht bitter? … Was sollte ich tun? … Es war meine Mutter … Trotz allem, was sie mich hatte durchmachen lassen … Sie war ohne Hoffnung. Hätte sie gewußt, daß ich eine Pistole an der Hüfte trug, sie wäre wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen … Ich sagte, ich würde mich sofort melden, wenn sich die Lage beruhigt hätte. Wieder
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