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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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wenigen Schritten unserer neuen Wanderung nicht ausreichend beantworten. Ich konnte nur ein paar Vermutungen anstellen. Doch das war nicht nötig. Ich überließ mich noch einmal dem Gefühl, daß die Zeit die Türen öffnen würde. Außerdem gab mir seine Reaktion, ausgehend von seinem letzten Satz, eine weitere Gelegenheit, uns einander zu nähern. Erfreut, diese Gelegenheit nutzen zu können, gab ich eine Antwort, von der ich überzeugt war, daß sie nötig war.
    »Jetzt werd mal nicht rassistisch, du Arsch! … Bring mich nicht so weit, daß ich dich vollscheiße! …«
    Daraufhin hob er grinsend die Hände, als wollte er zeigen, daß er aufgab. Wir stiegen ein. Auch ich grinste. Unser gemeinsames Grinsen erinnerte mich an die Wärme, in die ich mich noch einmal ganz hineinfallen lassen wollte. So zu tun, als sei ich beleidigt, hatte nämlich vor allem den Sinn, zu unseren alten Zeiten zurückzufinden. Weder war Necmi im geringsten rassistisch, noch verteidigte ich betroffen eine Rasse … Das war ja damals eine unserer gerade für mich wertvollsten politischen Errungenschaften. Und was immer er auch erlebt haben mochte, die Jahre konnten ihn davon nicht entfremdet haben. So gesehen waren diese Hänseleien in unserer Beziehung vollkommen unschuldig und gehörten einfach zu ihrer Farbigkeit …
    Als wir losfuhren und noch einmal an der Schule vorbeikamen, fiel mir mit einemmal auf, wie viele Flüche wir benutzten. Doch darüber mußte man sich nicht wundern. In den neuen Dialogen des Schauspiels mußte dieser Jargon vorkommen. Wahrscheinlich waren wir überzeugt, die Momente, die wir damals erlebt hatten, auf diese Weise wiedergeben zu können. Die Geschichte rief uns auch auf diese Weise.
    Eine Zeitlang sprachen wir nicht und schauten einander nicht an. Es herrschte abendlicher Stoßverkehr. Nach einer Weile schaltete ich den CD -Player ein mit der Sammlung, die ich für uns vorbereitet hatte. Das erste Lied begann langsam mit den von weit her kommenden Schreien der Möwen. Mir erschien dieses Lied gut zu unserer Vergangenheit und zum Geist des Kampfes zu passen, den wir geführt hatten: »Ich bin sehr müde … Warte nicht auf mich, Kapitän … Ein anderer soll ins Logbuch schreiben …« Die Worte von Nâzım Hikmet führten hin zu einem ganz anderen Leid, wenn sie von Cem Karaca gesungen wurden, einer anderen geschichtlichen Zeit des Aufstands … Kaum hatte Necmi das gehört, reagierte er schon:
    »Uh! … Du triffst mich ins Herz, gemeiner Kerl! …«
    Ich spürte, ich hatte ihn irgendwo ganz tief drinnen getroffen. Ich konnte nicht vermeiden, daß dieses Gefühl auch auf mich überging. Ich hatte das schon durchgemacht, als ich die Lieder, die wir hörten, erneut gehört hatte … Die Lieder von Cem Karaca, Fikret Kızılok, Timur Selçuk, Selda, Ruhi Su … Einige davon hatten wir damals zusammen vom Plattenspieler gehört … Ein paar andere waren später in unser Leben gekommen … Um unserer Trennung mehr Bedeutung zu geben … Für unsere Kämpfe … In der Hoffnung, uns an unterschiedlichen Stellen ans Leben zu klammern … Weil wir die Lieder während der Fahrt hörten, schwiegen wir und achteten darauf, was unsere Erinnerungsfetzen in uns wachriefen. Es reichte uns, ab und zu einige kurze Kommentare zu geben und die Lieder leise mitzusummen.
    Zwischendurch sah ich, wie sehr er ergriffen war. Ich kannte seinen Gesichtsausdruck, wenn er sehr ergriffen war. Das hatte sich nicht geändert. Es war dasselbe Gesicht. Dieser Anblick führte auch mich weit fort. Ich fühlte mich gedrängt, ihm zu sagen, daß wir das Gerät ausschalten könnten. Er machte mir ein Handzeichen, daß ich es weiterlaufen lassen sollte. Wir versanken wieder in Schweigen. So war es am besten. So mußten wir während der Fahrt nicht über Belangloses reden. Außerdem, ist nicht Schweigen auch eine Form der Rede? … Vielleicht waren wir sogar an denselben Ort abgedriftet, wo wir die gleichen Bilder berührten. Wenn das der Fall war, paßte es sehr gut zu diesem Abend. Wieder breitete sich Wärme in mir aus …
    Mit diesem Gefühl kamen wir in Ortaköy an. Wir parkten den Wagen. Um ein wenig die kühlere Luft zu genießen, gingen wir langsam ans Ufer des Bosporus. Eine Zeitlang schwiegen wir noch. Dann begann ich, um die Stimmung nicht zu stören, mit leiser Stimme zu sprechen und uns an unseren Abend etwas mehr anzunähern.
    »Wollen wir Fisch essen gehen? … Vielleicht gibt es irgendwo gute Makrelen oder Meerbarsch … Und wenn

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