Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
ins Wort fallen wollen, doch irgendwie nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden. Denn er sprach dermaßen schnell und erregt … Er wirkte, als wolle er unendlich viel erzählen, mitteilen …
»Das war knapp, verflucht! … Und wie wir den steilen Berg raufgerannt sind, weißt du noch? …«
Er nickte lächelnd. Die Bilder überlagerten sich eine Weile. Deswegen schien mir dieses Lächeln sowohl Leid als auch Gelassenheit zu enthalten. Was er dann sagte, unterstrich diesen Eindruck nur noch mehr.
»Seit Jahren war ich nicht mehr Brille genannt worden … Doch in diesem Moment kränkte mich der Ausdruck gar nicht. Im Gegenteil, ich mußte sogar lachen … Inzwischen war dermaßen viel geschehen. Du wirst es vielleicht nicht glauben, doch als ich das Wort hörte, stärkte es sogar meinen Lebenswillen. Ich erinnerte mich an ein Wort deines Vaters, der einmal sagte: ›Wir haben all die Zeiten heil überstanden, indem wir gelernt haben, über unsere Peiniger zu spotten.‹ Es half mir sehr, daß ich mich in dem Moment daran erinnerte. Ich habe mich auch an dich erinnert, mir ist klargeworden, wie sehr ich dich vermißte, ich dachte, was du wohl machst. Doch dann war auch das vorbei … Was vergißt der Mensch nicht alles, wenn er die Werkbank passiert …«
Bei seinen letzten Worten schaute ich verständnislos. Natürlich merkte er, daß ich nichts kapierte. Er erklärte, indem er zu lächeln versuchte: »Wenn du gefoltert wirst … Dann wird dir erst richtig klar, wie wertvoll dein Leben ist …«
Ich hatte schon gefürchtet, daß er das sagen würde. Doch es sollte mich eigentlich nicht verwundern, daß ein Mensch in seiner Position auch diese Finsternis erlebt hatte. Vielleicht würde er nicht erzählen, was er erlebt hatte. Ich konnte von ihm nur das Erzählbare erwarten. Ich konnte lediglich indirekt vorgehen. Angesichts seiner Entscheidung, über seine Erlebnisse dort wie von einem gewöhnlichen Spiel zu erzählen, konnte ich mich nur so verhalten. Zumindest konnte ich sein Gefühl kennenlernen, das das Vergangene in ihm zurückgelassen hatte. Auf diese Weise konnte ich ihn weiter öffnen.
»In welcher Situation hast du dich am hilflosesten gefühlt?«
Er hielt inne, drehte den Kopf, als wollte er mich nicht anschauen. Mir fiel wieder das Zittern in seiner Stimme auf.
»Wenn ich die Stimmen der Gefolterten hörte … Vor allem die Schreie der Frauen … Vielleicht waren sie nicht echt … Vielleicht ließen sie uns diese Schreie absichtlich hören. Ich weiß nicht. Aber diese Augenblicke waren schrecklich. Du liegst auf der Pritsche in den blutigen Kleidern, die sie dir zugewiesen haben, wartest darauf, zum Verhör geholt zu werden, und diese Stimmen gellen in deinem Ohr … Da läßt du dich unwillkürlich von dieser Stimmung erfassen …«
Ich gab keine Antwort, besser gesagt, ich konnte nicht antworten. Ein Protest wuchs in mir, ich sagte aber trotzdem nichts. Er wirkte, als hätte er furchtbares Leid ertragen. In diesem Land waren so viele Menschen, die solch einen Kampf gewagt hatten, in äußerster Finsternis ausgelöscht worden … So viele Menschen hatten so viele Tode erlebt … In die erbarmungslose Geschichte dieses Landes wurde die Erzählung so vieler aus dem Leben gerissener Menschen eingeschrieben, die starben, ohne die eigene Kindheit hinter sich gelassen, ohne vielleicht jemals ihre große Liebe erlebt zu haben …
Wir vergruben uns aufs neue in ein kurzes Schweigen. War in seinen Blicken ein Vorwurf, eine Enttäuschung? … Und wenn, gegen wen richteten sich diese Gefühle? … Gegen das Leben oder gegen solche wie mich, die derartige Schmerzen nicht erlebt hatten? … Oder war ich es, der diese Blicke so deutete? … Es gab wieder viele Möglichkeiten. Ein weiteres Mal konnten wir das Erlebte mit all unseren Grenzen und Schwächen betrachten. Sicherlich war das neuerliche Bemühen um Individualität keine Schuld in dieser unserer Beziehung. Doch konnte ich trotzdem nicht verhindern, daß ich mich schuldig fühlte. Selbst wenn ich mir selbst damit unrecht tat … Weil der Mensch, der mir dermaßen wertvoll war, diese Schmerzen hatte erleben müssen … Weil ich nicht mit ihm zusammen gelitten hatte … Meine nächste Frage war aus diesem Gefühl geboren. Diese innere Stimme hörte, kannte nur ich. Nur ich … Doch ich konnte nicht anders, als zu fragen. Ich mußte der Spur der Erzählung nun soweit wie möglich folgen
»Warst du lange drin? …«
Noch einmal breitete sich ein trauriges
Weitere Kostenlose Bücher