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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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führte. Die Menschen in den offenen Arkaden, die von gelb und grün gestrichenen Säulen begrenzt waren, zeigten deutlich, wohin wir strebten. Eine Frau undefinierbaren Alters mit kurzem Militärhaarschnitt und sehr schlechter Kleidung näherte sich uns. Schwach lächelnd sagte sie etwas in unverständlichen Worten. Necmi tat, als kennte er sie, legte ihr den Arm um die Schulter und fragte sie nach dem Ergehen. Vielleicht kannte er sie auch, das weiß ich jetzt nicht mehr. Doch eindeutig fühlte er sich nicht fremd an dem Ort, wo wir uns jetzt befanden. Dann schaute die Frau mich an und führte Zeigefinger und Mittelfinger zusammengelegt an die Lippen, zum Zeichen, daß sie eine Zigarette wollte. Ich reichte ihr eine und zündete sie auch an. Mit der Hand machte sie ein Zeichen des Dankes und entfernte sich, wieder unverständliche Wörter murmelnd. Eine andere Frau saß auf der Erde, lehnte sich an eine der Säulen an und erzählte jemandem etwas, vielleicht sich selbst. Wir näherten uns schrittweise Şebnem. Necmi faßte plötzlich meinen Arm, als wollte er mir zeigen, daß er meine Verunsicherung spürte, und sagte mit leiser Stimme:
    »Du wirst keine besonders schönen Dinge zu sehen bekommen.«
    Ich antwortete nicht. Mir war hinreichend bewußt, wohin ich gekommen war und warum. Ich fühlte mich wie in einem Film. Unweigerlich schlugen sich meine Gefühle in meiner Stimme nieder. Dennoch wollte ich meine Entschlossenheit unbedingt noch einmal bestätigen, um aus dieser Entschlossenheit Kraft zu schöpfen.
    »Das weiß ich … Doch ich will sie sehen. Was auch immer es zu sehen gibt …«
    Meine Stimme zitterte. Dieses Zittern war nicht zu verbergen. Daraufhin zog er mich am Arm zu einer nahegelegenen Bank und hieß mich setzen. Er setzte sich neben mich. Dieses Mal erzählte er etwas mehr. Um mich vielleicht einzugewöhnen … Und durch das Eingewöhnen zu entspannen …
    »Wir kommen gleich zur Station L, wo die chronisch Kranken sind. Die meisten sind schizophren. Hoffnungslose Fälle in vieler Hinsicht. Niemand fragt nach ihnen, keiner von draußen kümmert sich um sie. Sie haben sich hier ihre eigene Welt geschaffen. Eine gemeinsame Welt oder eine ganz einsame … Keiner weiß, was sie sehen, was sie fühlen. Ich habe mit vielen von ihnen gesprochen. Sie haben für sich sehr interessante Daseinsformen gefunden, begründet … Du wirst es nicht glauben …«
    Hier hielt er inne und schaute zu Boden. Seine Worte hatten ihn an wer weiß was für Augenblicke erinnert. Es fiel ihm schwer zu sprechen. Vielleicht stand ihm das Bild eines Menschen vor Augen, der in einer anderen einsamen, privaten Welt gefangen war. Vielleicht erinnerten wir uns an denselben Menschen aus unserer jeweiligen Sicht. Ich ließ von dem Gedanken ab und wartete, daß er weitersprach. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:
    »Wie ich schon sagte, haben die Kranken hier niemanden mehr. Sie werden irgendwie hergebracht und sterben hier … Still und unbemerkt … Das Krankenhaus kümmert sich um sie, jahrelang, und beerdigt sie …«
    Worauf diese Worte anspielten, war klar. Sicherlich hatten die meisten dort eine sehr leidvolle persönliche Geschichte. Dieser Tatsache gegenüber konnte ich nicht unsensibel sein. Doch wie die bekannte Redewendung sagt, kümmert man sich, wenn es brennt, zuerst ums eigene Haus. Şebnem … War Şebnem, die mit ihren großen, strahlenden, dunklen Augen ins Leben geblickt hatte, nun derart einsam und von allen verlassen? … Ich mußte auf die Beantwortung meiner Frage nicht lange warten. Was ich zu hören bekam, gehörte zu den Erzählungen, die dem Menschen im wahrsten Sinne des Wortes das Innere versengen. Necmi aber schien kein Leben, sondern einen Film, einen Roman zu erzählen. Ich hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Ich konnte gar nicht anders. Ich saß wie angenagelt auf meinem Platz.
    »Anfangs lief alles, wie sie es sich gewünscht hatte. Du erinnerst dich doch, wie leidenschaftlich sie am Theater hing … Ihr größter Wunschtraum war, eine gute Schauspielerin zu werden. Mit diesem Traum ging sie nach Paris. Nach zwei Jahren verliebte sie sich dort in einen Franzosen, der wie sie von einer Schauspielkarriere träumte. Nach kurzer Zeit entschlossen sie sich zu heiraten. Ihre Eltern waren sehr gegen diese Ehe. Um so schlimmer, als sie ihr überhaupt kein Beispiel einer guten Familie gegeben hatten … Hast du gewußt, daß sie einen sehr konservativen, bösen Vater hatte? … Einen gewalttätigen

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