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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Sicht kennenlernte. Sie weinte fast. Damals erkannte ich den Grund nicht, aber ich fühlte, daß sie sich deine Geschichte nicht nur wie die eines Klassenkameraden anhörte. Später dachte ich, sie sei dir durch ein tiefes Gefühl verbunden. Vielleicht liebte sie dich auch, oder es ging um ein ganz anderes Gefühl, das sie nicht einmal selbst definieren konnte. Die Bezeichnung bedeutet nichts, aber da war etwas, das konnte ich nicht übersehen. Sie erzählte mir natürlich auch etwas über sich. Über ihre Träume von der Schauspielerei und was für ein naseweises, schwatzhaftes Mädchen sie als Kind gewesen sei … Und über ihre Leidenschaft fürs Malen … Davon hatte sie keinem etwas gesagt, ich war der erste, der davon erfuhr … Sie zeigte mir auch ihre Bilder. Sie waren wirklich sehr eindrucksvoll, neuartig … Damals teilte sie mir noch ein weiteres Geheimnis mit. Zweimal war sie wegen starker Depressionen ein paar Tage im Krankenhaus gewesen. Das heißt, jene ›Verrückung‹ hatte heimtückischerweise schon damals begonnen … Die Bedeutung ihrer Gemütsschwankungen habe ich damals kaum begriffen. Der Mensch begreift einen Zustand nicht wirklich, solange er ihn nicht selbst erlebt … Außerdem waren wir damals nicht in der Lage, uns mit solchen Details zu befassen … Nun gut, lassen wir das jetzt. Ich komme vom Hundersten ins Tausendste …
    Ich kannte ihr Haus sehr gut, wie du dir denken kannst. Ich habe auch einen guten Orientierungssinn. Unsereins ist zwar einäugig, aber trotzdem … Ich bin hingegangen und habe die Straße gefunden, nicht aber das Haus. So sehr konnte mich mein Gedächtnis nicht täuschen. Ich war zwar an ein, zwei leeren Grundstücken und einer Hausruine vorbeigegangen, doch ehrlich, ich wollte irgendwie nicht schnallen, was das bedeutete. Wie ich so rumlief und dastand, weckte ich das Interesse einer alten Tante. Du weißt ja, die merken gleich, wenn einer fremd ist in der Wohngegend. Sie fragte mich, wen ich suche. Schließlich war aus meinem Benehmen leicht zu erraten, daß ich jemanden suchte. Ich versuchte ihr mein Problem zu erklären. Sie hörte mich an und fragte, ob ich ein Verwandter von Şebnem sei. Ich sagte, ich sei ein alter Freund von ihr. Hatte sie verstanden? … Vielleicht. In manchen Filmen schwant einem in solchen Situationen ja immer etwas. Mir ging es hier ganz genauso, wenn du weißt, was ich meine. Der Film lief weiter. Sie lud mich zu sich nach Hause ein und bot mir einen Kaffee an. Sie schien viel erlebt, viel mitgemacht zu haben. Dann erzählte sie mir aus ihrer Sicht, was ich dir gerade erzählt habe. Denn sie war eine nahe Freundin der Familie gewesen. Beim Zuhören hatte ich natürlich Tränen in den Augen. Sie fragte mich nicht, wer ich eigentlich sei. Doch sie hatte recht gut verstanden. Ich versuchte sowieso nicht, meine Gefühle zu verbergen. Als ich schwieg, sagte sie: ›Los, Junge, sie ist mutterseelenallein, fahr dorthin und besuch sie. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt. Wir konnten sie nicht hierbehalten. Jeder versucht selber durchzukommen. Wir hätten nicht mal das Geld für ihre Medikamente gehabt. Wenn sie lebt, dann fängt sie vielleicht bei deinem Anblick zu sprechen an. Freilich, wenn es noch Hoffnung gibt. Inzwischen ist ja soviel Zeit darüber vergangen, das ist vor so vielen Jahren passiert, daß ich gar nicht daran denken will. Hör auf die Stimme deines Herzens …‹ Dann, als ich schon gehen wollte, gab sie mir etwas, das mich laut losheulen ließ, ich konnte mich nicht länger beherrschen. Ein Heft, in dem viele Seiten verkohlt waren. Ihr Tagebuch … Die Alte hatte es in der Ruine gefunden und aufbewahrt. Ein Stück, das aus dem Brand gerettet worden war. Auf den erhaltenen Seiten verbargen sich Einzelheiten ihrer Geschichte … Wer weiß, was in dem Verbrannten noch gestanden hatte … Die alte Frau vertraute mir das Heft an … Mensch, diese Filme muß auch immer ich erleben! … Ich habe dir Şebnems Geschichte als eine Mischung aus meiner Lektüre und den Erzählungen der alten Frau erzählt. Was für eine tolle Geschichte, nicht? … Als hätte jemand irgendwo einen Vertrag geschlossen, dir die Fakten in die Hand gedrückt und gesagt: ›Los, nun schreib das mal auf!‹ Aber wo hätte ich denn die Geduld dazu … Ich habe nichts aufgeschrieben, aber ich konnte doch nicht davon ablassen, die Geschichte weiterzuverfolgen. Selbstverständlich bin ich ins Krankenhaus gefahren. Es war nicht leicht, sie zu finden, doch zuletzt

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