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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Kerl, der geschäftlich dies und das versuchte und dabei das Geld seiner Frau vergeudete, ein Despot, ein Irrer … Ich habe ihn einmal gesehen. Hätte ich ihn doch nie gesehen! Şebnems Mutter hatte von ihrer Familie viele Immobilien geerbt. Die wurden mit der Zeit nach und nach verkauft. Zuletzt ging die Frau für Tagelohn als Näherin in die Häuser, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Eine Geschichte von Abstieg und Elend, genau wie in diesen kitschigen, billigen Romanen … Ein Vater, der dem Schmerz, im Leben nichts erreicht zu haben, nur entfliehen konnte, indem er sich nicht um den Überlebenskampf seiner Nächsten kümmerte … Eine unterdrückte, opferbereite Mutter … Wohlbekannt, aber genauso wirklich … Das war das Umfeld … Natürlich gehörte zu dieser Primitivität, daß sie überhaupt keinen Wert auf die Theaterbegeisterung ihrer Tochter legten. Şebnem blieb nichts übrig, als in ein anderes Land zu fliehen. Als die Sache mit der Heirat rauskam, kümmerte sie sich, wie schon bei ihrer Flucht, nicht um die Unmutsäußerungen, ja sogar Drohungen der Eltern. Du weißt, es war ihr Schicksal, ihren eigenen Kopf durchzusetzen.
    Anfangs lief die Ehe gut. Damals schrieb sie ihren Eltern regelmäßig Briefe, sie erzählte, was sie erlebte, wie glücklich sie sei. Wer weiß, ob sie sich zu rächen versuchte oder sich selbst versichern wollte, daß sie das für sie richtige Leben gewählt hatte. Diese Beziehung führte sie drei, vier Jahre fort. Danach hörten die Briefe plötzlich auf. Şebnem hüllte sich in Schweigen. Eines Tages kehrte sie nach Istanbul zurück. Mit einem Kind im Arm und in ziemlich elendem Zustand … Die nötige Erklärung ist rasch gegeben. Ihr Mann hatte gesagt, er wolle nicht weiterhin mit ihr und dem Kind leben und war mit einer portugiesischen Fotokünstlerin nach Brasilien gegangen … Ihre Eltern nahmen sie natürlich auf. Doch was für eine Aufnahme das war, kannst du dir wohl vorstellen. Damals versuchte sie, das Kapitel Paris für immer zu beenden. Sie hatte das Studium abgeschlossen, hatte dort auch in einigen Stücken auf der Bühne gestanden, wenn auch nur in kleinen Rollen, doch ihre Rückkehr nach Istanbul führte dazu, daß ihre Verbindung zur Schauspielerei abriß. Wie sehr mag sie den Zustand, in den sie geraten war, als große Niederlage und Verlassenheit erlebt haben … Daß Şebnem ihre Leidenschaft für die Schauspielerei aufgibt, ihre Begeisterung abtötet und sich in sich zurückzieht, das kommt einem doch völlig unglaublich vor, oder? Vielleicht wollte sie auch ein neues Leben anfangen, ein ganz neues, ganz anderes Leben. Nach einer Weile gelang es ihr auch, dieses Leben aufzubauen. Zumindest fing ihre Umgebung an, das zu denken. Es fehlte dennoch nicht an Spannungen zu Hause. Insbesondere ihr Vater trank immer mehr; er rührte ständig vergangene Dinge auf und ließ seine Tochter nicht in Ruhe, indem er ihr vorwarf, was sie ihm angeblich angetan hatte. Diese schwieg jedoch zu seinen Vorwürfen, sie schwieg nur und weinte manchmal. Sie wehrte sich nicht, konnte vielleicht nicht … Vielleicht lehnte sie sich mit ihrer Schweigsamkeit, mit diesem stummen Widerstand in anderer Weise gegen ihren Vater auf … Indem sie ihm durch ihre Schweigsamkeit nicht den erwarteten, gewünschten Widerspruch lieferte … Wenn ich dies so überlege, denke ich unweigerlich, daß ihr Zusammenbruch schon lange vorher begonnen hatte. Wenn du mich fragst, zeigt sich das auch in dem, was sie als ihr neues Leben wählte. Selbst wenn ihre Umgebung sagte, es sei ihr gelungen, ihr Leben in Ordnung zu bringen, konnten wohl diejenigen, die sie so gut kannten wie ich, ihre Erlebnisse auch so sehen und interpretieren? … Als ich davon erfuhr, lächelte ich lediglich bitter. Weil sie inzwischen das Französische sehr gut beherrschte, hatte sie in einer großen französischen Firma eine Stelle als Direktionsassistentin gefunden. Manche wunderten sich ein wenig, wie sie in so kurzer Zeit an einen solchen Platz gelangt war, doch wer ihre Kraft kannte, mit der sie Gewünschtes zu erreichen, sich durchzusetzen verstand, der war nicht so erstaunt. Sie verdiente gut und konnte die Familie unterhalten. Dadurch zeigte sie vielen in ihrer Umgebung, was für eine starke und der Familie verbundene Frau sie war. Damals ging sie auch oft auf Geschäftsreisen. Du erinnerst dich, sie wohnten in einem alten Haus in Bomonti. Als die Dinge langsam besser zu laufen anfingen, begannen sie darüber zu

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