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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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sprechen, daß man das Haus verkaufen sollte, um in eine bessere Gegend zu ziehen. Doch ihre Mutter hatte wenig Neigung, dieses einzige Haus zu verkaufen, das ihr von ihrer Familie noch geblieben war. Es war freilich nicht schwer, diesen Widerstand zu verstehen.
    So vergingen drei Jahre. In dieser Zeit kam weder aus Paris noch aus Brasilien irgendeine Nachricht … Eines Tages ereignete sich das Unglück, das den großen Riß verursachte. Sie war gerade auf Geschäftsreise, als ihr Vater im Suff durchdrehte und, nachdem er seine Frau und sein Enkelkind bewußtlos geprügelt hatte, überall Petroleum vergoß und das Haus anzündete. Die Nachbarn waren an die Schreie, die aus dem Haus drangen, inzwischen so gewöhnt, daß sie zuerst nicht einschritten. Als die Flammen sich jedoch ausbreiteten, wurde ihnen die katastrophale Lage klar. Doch da war es schon zu spät. Bis die Feuerwehr eintraf, war das Haus schon eine Brandruine. Es war unmöglich, ins Innere vorzudringen. Alle drei hatten in den Flammen den Tod gefunden. Als Şebnem zurückkehrte, sah sie nichts als diese Ruine. Angesichts dessen, was sie sah, weinte sie nicht einmal, sie war wie versteinert, zeigte keine Reaktion. Man tat alles, um sie wieder zu sich zu bringen. Zwei, drei Tage verbrachte sie im Haus einer Nachbarin. Vergebens … Da gab es nur die Lösung, sie hierherzubringen. Das ist alles. Seither spricht sie nicht, wenn man ihre Akte und die Eintragungen sowie die Aussagen der Ärzte nimmt … Anfangs kamen verschiedene Besucher. Zwei Jahre lang kam der Direktor der französischen Firma, für den sie als Assistentin gearbeitet hatte, hartnäckig immer wieder. Obwohl er sah, daß er keine Antwort bekam … Wer weiß, was für eine Verbindung es zwischen ihnen gab, oder was der Mann fühlte, zu fühlen anfing bei diesem Anblick. Das ist eine andere Geschichte. Es gibt hier niemanden mehr, der sich an jene Zeit damals erinnert. Bis vor kurzem war da einer. Einer von den altbewährten Krankenpflegern … Der ist auch vor ein paar Monaten verstorben. Von ihm habe ich erfahren, was ich über den französischen Besucher weiß. Der Mann sei jedesmal mit einem Strauß Feldblumen gekommen … Dann kam auch er nicht mehr. Sie stellten Nachforschungen an und erfuhren, daß er in seine Heimat zurückgekehrt sei. Vielleicht hatte er aufgegeben. Vielleicht auch … Nun ja … Mehr wissen wir nicht. Für Şebnem machte es sowieso kaum einen Unterschied. Jedenfalls nach außen hin. Denn sie hat ihr Schweigen seit dem Tag, an dem sie hierhergebracht wurde, nicht auch nur einen Augenblick gebrochen …«
    Diese Geschichte hatte Necmi fast in einem Atemzug erzählt, und ich hatte unbewegt und atemlos zugehört. Was konnte ich angesichts des Gehörten schon sagen? … Ich mußte mich wieder einmal mit Schweigen begnügen. Wahrscheinlich war das gemeint, wenn es hieß, man sei völlig perplex. Die Geschichte klang dermaßen unglaublich … Sie war so erschütternd und voll von einer mir unbekannten Schlechtigkeit … Sie tat mir sehr weh … Oder hatte Necmi sich das Ganze wohl ausgedacht? … Mein Gefühl zog mich in dem Augenblick sogar in Richtung dieser Variante. So schwer fiel es mir, das Gehörte zu glauben. Doch mir war klar, es gab keinen Grund dafür, daß er sich so etwas hätte ausdenken sollen. Noch dazu nach allem, was er selbst erlebt hatte … Gut, aber wie hatte er das alles erfahren? … Als hätte er meine Frage gehört, unterbrach er kurz darauf mit seiner Frage unsere Stille.
    »Du wunderst dich, woher ich das alles weiß, nicht wahr?…«
    Ich nickte. Ich konnte nicht sprechen. Er ließ mich nicht warten. »Auch ich habe es erst Jahre später erfahren. Ich habe dir gestern abend ja gesagt, warum ich das Rauchen aufgegeben habe … Jene Nacht und der Morgen danach waren letztlich sehr wichtig. In solchen Zeiten möchte der Mensch auch das sehen, was er in der Vergangenheit zurückgelassen hat. Ich habe auch daran gedacht, dich anzurufen. Doch, ungelogen, noch lieber wollte ich Şebnem sehen. Ich hatte so eine Sehnsucht nach ihr … An jenem Morgen wurde mir das immer klarer. Im Sommer nach unserem Abitur hatten wir uns ein paarmal getroffen. Wir wußten, daß wir in verschiedene Städte gehen würden. Wir wollten ein freies Leben beginnen. Was auch immer das heißen mag. Wir erzählten einander lange von unserer Kindheit, wie wir aufgewachsen waren. Ich erzählte ihr auch, was wir beide zusammen erlebt hatten. Ich wollte, daß sie dich auch aus meiner

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