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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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… Wie hatte sie es doch trotz ihrer geringen Körpergröße verstanden, uns alle mit jenen Augen und ihren durchdringenden Blicken zu lenken, zu versammeln … Als wäre es ihr Schicksal gewesen, in bezug auf uns immer die große Schwester zu spielen. Mit Problemen setzte sie sich als erste auseinander. Diese Rolle hatten wir ihr gegeben, übertragen. Wir mochten diese Seite an ihr sehr. Denn selbst ihr Zorn hatte noch Wärme. Eine Wärme, die uns allen Zuversicht gab … Damals dachte ich öfter, sie würde diese Rolle ihr Leben lang nicht ablegen können. Sie schien vom Schicksal geradezu ausersehen, sich mit Problemen zu beschäftigen … Diese Haltung war mir immer sehr nahe gegangen.
    Nach unserem Schulabschluß brachte sie eines Abends die ›Schauspieltruppe‹ noch einmal zusammen. Sie argumentierte, es passe nicht zu uns, wenn sich unsere Wege nach einem traditionellen Abschlußball trennten … Wir fuhren zum Essen in ein Restaurant in Tarabya. Şebnem und ich saßen nebeneinander, und als nach einer Weile unter dem Einfluß des Alkohols alle in eine andere Richtung drifteten, redeten wir lange und stießen auf eine unbekannte Zukunft an. Dieses Gespräch hatte ich nicht erwartet. Ermutigt von dem, was ich gehört hatte und sagen konnte, brachte ich endlich das Geständnis heraus, mit ihr allein sein zu wollen. Das war auch ihr Wunsch. Offen gesagt war ich auf eine solche Antwort nicht gefaßt gewesen. Nun begann für mich eine Nacht, auf die ich seit langem gewartet hatte. Ein Traum nahm mich langsam gefangen. Es war gar nicht so schwer, uns von der ›Truppe‹ zu trennen. Şeli und Yorgos wollten gerne woandershin gehen. Wir hatten nichts dagegen, daß auch sie allein bleiben wollten. Necmi und Niso hatten schon längst ein ideologisches Streitgespräch über die Revolution begonnen. So gingen auch wir ein bißchen Hand in Hand, dann setzten wir uns auf eine der Bänke am Bosporusufer. Das Hotel Tarabya mit seinen Lichtern und allem, woran es erinnerte, lag nicht weit entfernt. Direkt vor uns waren Boote vertäut, die zu ganz fremden Leben zu gehören schienen. Doch das Meer verbarg seine alten Geschichten. Von dort her kamen so viele Erinnerungen, die ich mit so vielen Erlebnissen und Menschen verband … Dieses Gefühl versuchte ich ihr mitzuteilen. Dabei erfuhr ich dann, daß auch sie mit dieser Bucht viele unvergeßliche Erinnerungen verband. Diese gemeinsamen Erinnerungen zogen uns noch mehr zueinander hin. Unsere Kindheit hatten wir inzwischen weit hinter uns gelassen. Die Kinder waren erwachsen geworden, aber waren sie wirklich erwachsen? … Diese Frage konnten wir uns in jener Nacht weder für uns selbst noch gegenseitig beantworten. Denn in uns wohnte eine andere Schwermut; andere Hoffnungen, Erwartungen und Ängste existierten … Wir waren an einen Punkt gelangt, wo viele Gefühle ineinanderflossen, die Lichter der Nacht, das Klatschen der leichten Wellen an die Boote und vor uns die unausweichliche, nun nicht mehr aufschiebbare Trennung … Die Trauer, die mit dieser Trennung in unser Leben kam … Die Erinnerung an das, was wir in unserem ›Spiel‹ geteilt und erlebt hatten, und natürlich auch das, was wir nicht hatten aussprechen können … Mit diesen Wellen wurde ich zu ihr hingezogen … Ich würde meine Gefühle nicht länger verheimlichen, sie nicht verheimlichen können … Wir sprachen über unsere Welt in der Zukunft, unsere Begeisterung und vor allem über unseren Protest. Über unseren Protest, der uns um so mehr mit dem Leben verband … Denn wir brauchten diesen Protest wahrscheinlich. Um unser Leben noch mehr zu lieben … Um unsere Wunden leichter zu ertragen, in der Hoffnung, sie verbinden zu können … Um vergessen zu können, wie verlassen wir waren … Denn auch wir gehörten zu jenen verwundeten Kindern …
    Warum konnte Şebnem nur in so einer Situation ihre Verletzungen offen zeigen? … Wer weiß … Vielleicht hatte sie den Mut dazu nicht gehabt oder geglaubt, keinen Mut zu haben, selbst wenn sie sich das sehr gewünscht hatte. Zum ersten Mal sah ich diese ihre äußerst verletzliche, zarte Seite. Wenn ich in jener Nacht nicht sagte, was ich sagen wollte, würde ich es wahrscheinlich niemals sagen, dachte ich. Es war kühl geworden. Die Kälte der Nacht brach in jeder Beziehung über mich herein. Ich zitterte innerlich. Wir drängten uns ziemlich eng aneinander. Sie legte den Kopf auf meine Schulter. Danach schlang ich meinen Arm um ihren Nacken. So verharrten

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