Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
wir schweigend. Ich war außerordentlich aufgeregt … Sie begann mit gedämpfter Stimme zu sprechen, so als flüsterte sie mir ins Ohr … Die Empfindung der Nacht verlangte nach so einer Stimme. Doch eigentlich war die Stimme nicht gedämpft, sondern ein Schrei. Ein Schrei, den ich in dieser Nacht nicht richtig wahrnehmen konnte … Dabei war das, was sie sagte, sehr erschütternd. So erschütternd, daß es den Menschen tief erschauern lassen konnte …
»Ich fürchte mich, Isi, ich habe schreckliche Angst … Vor dem Leben, vor der Zukunft … Mir ist, als fiele ich von irgendwo herunter. Als wenn … Als würde mich ein bodenloser Brunnen verschlingen … Ich weiß nicht, warum ich so fühle, aber es ist so … Ich habe einfach Angst …«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Wollte sie, daß ich ihre Hand hielt? … Sollte ich sie das ganze Leben hindurch, unser beider Leben hindurch, festhalten? … Sollte ich ihr sagen, ich wolle mit ihr zusammen alt werden … Das wollte ich sehr gerne. Ich konnte das, was sie von mir erwartete, mit einer Handbewegung wegwischen. Oder ich konnte ihretwegen den Verlauf meines Lebens ändern … Doch aus meinem Mund kam nur ein einziges Wort. Ein einziges Wort, das meine Verwirrung, meine Hilflosigkeit und Schwäche in aller Deutlichkeit offenbarte …
»Ich …«
Mein inneres Zittern wirkte sich auf meine Stimme aus. Ich hatte einen Satz begonnen und wußte nicht, wie ich ihn beenden sollte. Dann hielt ich inne. Ich suchte nach den passenden Worten. Sie ließ mich nicht weitermachen, sondern verfolgte lieber die Spur jener Angst, die uns in diesen Augenblicken gefangenhielt. Auch wollte sie vielleicht nicht hören, was ich sagen konnte …
»Sei still … Ich weiß, was du fühlst. Quäl dich nicht unnötig …«
Wußte sie tatsächlich, was ich fühlte? … Was sie angesichts meines Schweigens sagte, setzte mir eine Grenze.
»Fang bloß nicht an, dich in mich zu verlieben … Bloß nicht … Du kannst dir im Traum nicht vorstellen, was ich durchgemacht habe. Du kennst mich überhaupt nicht, weißt du? … Du wirst mich auch niemals kennen. Geh und lebe, wie du es für richtig hältst …«
Was meinte sie mit dem Richtigen? … Was war das Richtige? … Wie wollte ich leben? … Wie lebte sie? … Was war es, das sie mir noch immer nicht erzählt hatte? … Alle diese Fragen sollten in jener Nacht unbeantwortet bleiben … Dann richtete sie sich auf, zog einen ihrer Ohrringe ab, legte ihn in meine Hand und sagte mit nun wieder liebevollen Blicken:
»Bewahr diesen Ohrring um dieser Nacht willen auf … Für uns … Vergiß mich nicht, nie …«
Ich schloß meine Hand um den Ohrring. Ich wußte, ich würde sie nie vergessen. Weder sie noch die kleinste Einzelheit jener Nacht … Wir schauten einander lange an. Mit aller Kraft versuchte sie offenbar, sich an ihrer Zukunft festzuhalten, auf die sie trotz aller Ängste entschlossen zugehen wollte. Plötzlich trafen sich unsere Lippen. Es waren die heißesten, brennendsten Küsse meines Lebens. Während ich sie umarmte, sagte ich ihr, ich würde den Ohrring fest in meiner Hand behalten und bis zu meinem letzten Atemzug aufbewahren. Da schlang sie ihre Arme um meinen Hals. Eine Weile blieben wir so. Vielleicht hätte ich in dem Augenblick trotz aller Warnungen den Mut zu dem Schritt gefunden, der unser Leben hätte verändern können. Leider hinderte mich das, was sie mir ins Ohr flüsterte, ein weiteres Mal am Überschreiten jener Grenze.
»Diesen Sommer gehe ich nach Paris, um Schauspiel zu studieren. Du weißt, wie sehr ich das möchte. Außerdem ist es der beste Weg, von hier zu flüchten … Ich möchte fliegen, so weit ich fliegen kann … Bitte versteh mich. Versteh mich … Versuch, mich zu verstehen … Beschuldige mich nicht. Ich weiß ja, daß du mich nicht beschuldigst, doch ich wollte das noch mal sagen. Vielleicht fühle ich mich schuldig. Denn … Denn du bist ein sehr guter Mensch … Diese Nacht vergesse ich nicht, ich werde sie nie vergessen, versprochen …«
Was konnte ich in dieser Lage sagen? … Ich mußte schweigen. Mußte an dem mir zugedachten Platz bleiben, indem ich sie umarmte, nur umarmte. In der Hoffnung, dieser Liebe würdig zu sein, indem ich nicht versuchte, sie von ihrem Weg abzubringen …
Damals brauchte ich unzweifelhaft so eine Überzeugung. Jahre später habe ich mich gefragt, ob ich meine Haltung nicht dazu benutzt hatte, jene Angst zu verdecken. Das waren Augenblicke, in denen
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