Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
Vom Netzwerk:
Brücke nach irgendwohin bauen … Sich irgendwo festhalten … Das war es, was ich in jener Finsternis sehen wollte …
    Necmi war ebenfalls der Ansicht, daß man diese Tatsache keinesfalls übergehen durfte. Mich erfaßte eine wachsende Aufregung. Ich war nun bereit, ihr zu begegnen. Ich sagte, daß wir gehen könnten. Wir standen auf und gingen auf die Station zu. Als wir eintraten, sagte Necmi, wir müßten zuerst beim Stationsarzt und der Oberschwester vorbeischauen. Ich müsse mit ihnen sprechen. Er habe unseren Besuch angekündigt. Ich mußte mich seiner Führung anvertrauen. Wir gingen ins Stationszimmer. Der Arzt war dort, wir machten uns bekannt. Der Name des Arztes war Zafer. Er war sehr höflich. Als auch ich meinen Namen nannte, versuchte er noch höflicher zu sein und sagte, es gäbe in der Welt einige berühmte jüdische Psychiater. Das war nicht böse gemeint, er wollte wohl die Besorgnis, die er in meinem Gesicht las, etwas zerstreuen. Doch für mich lag in solch einer Einstellung immer etwas wie eine heimliche Diskriminierung. »Wahrscheinlich liegt es daran, daß man mit dieser Arbeit viel Geld verdienen kann«, antwortete ich absichtlich vieldeutig. Wir lachten. Das war eigentlich kein schlechter Anfang. Der Name der Oberschwester war Şükran. In dem Krankenhaus, in dem Şebnem in so einer Finsternis lebte, bedeutete der Name des Arztes Zafer ›Sieg‹ und der Name der Oberschwester Şükran ›Dankbarkeit‹. Wäre das ein Roman gewesen, wer weiß, was die Rezensenten in die Namen hineininterpretiert hätten … Dabei erlebten wir nur eine Geschichte, die einem Roman ähnelte. Zumindest ich fühlte mich unter dem Eindruck der letzten vierundzwanzig Stunden in so einer Stimmung. Ohne zu wissen, was ich in Zukunft erleben würde … Alle wirkten einfühlsam und aufrichtig. Necmi versäumte nicht zu sagen, er habe mich ausreichend informiert. Sie lächelten. Sie wollten einen Tee anbieten. Ich wollte, daß die Begegnung baldmöglichst stattfand, doch den Tee abzulehnen wäre unhöflich gewesen. Und auf diese Weise konnte ich mich noch etwas an die Umgebung gewöhnen, mich durch etwas Konversation stärken und vorbereiten auf das, was ich sehen würde. Die Oberschwester sagte, als spräche sie im Namen aller, sie seien ganz begeistert und glücklich zu erfahren, daß Şebnem einen Freund habe, der sich nach all der Zeit derart für sie interessiere. Das Wort ›Freund‹ erweckte natürlich meine Aufmerksamkeit. Was hatte Necmi ihnen über mich erzählt? … Das herauszufinden schien mir nicht leicht. Ich fragte aber nicht nach. Im weiteren Verlauf würde ich sowieso verstehen und die Tatsachen sehen können.
    Um in das Zimmer zu gelangen, mußten wir durch die Station hindurch. Der erste Anblick war, wie Necmi gesagt hatte, nicht so angenehm. Auch Doktor Zafer wollte mich darauf aufmerksam machen. Ich versuchte ihm dagegen lächelnd zu erklären, ich sei vorbereitet auf das, was wir zu sehen bekämen. Wir standen auf und gingen den Schicksalsgefährten von Şebnem entgegen. Was ich sah, war auf den ersten Blick für einen Menschen wie mich, der dieser Welt sehr ferne stand, wirklich irritierend. Drei Frauen unterschiedlichen Alters, wiederum mit ganz kurz geschnittenen Haaren, näherten sich uns. Sie betrachteten mich neugierig. Sie kannten den Arzt, und auch er sprach mit ihnen in zwangloser Art und Weise. Alle redete er mit Namen an. Eine von ihnen rief laut in die Runde, als wenn sie mich gut kennte: »Ah, schaut mal an, wer gekommen ist!« Auf diesen Ausruf kamen noch zwei weitere Frauen herbei. Die gesamte Aufmerksamkeit richtete sich auf mich. Wieder war ich etwas irritiert. Zafer Bey bemerkte, was ich fühlte, und flüsterte mir zu, ich solle mich nicht ängstigen, sie seien völlig ungefährlich. Alles sei unter Kontrolle … Wirklich? … Was bedeutete Kontrolle? … In dem Moment kam auch die Oberschwester mit zwei anderen Schwestern aus dem Zimmer … Das Interesse von Doktor Zafer hatte bewirkt, daß auch sie sich bemühten. Er fragte nach Şebnem. Sie war nicht zu sehen. Eine der Anwesenden sagte, sie sei spazierengegangen. Die Oberschwester fühlte sich wohl zu einer Erklärung veranlaßt, denn sie sagte, Şebnem habe die Erlaubnis zum Spazierengehen. Sie täte niemandem etwas. So ginge sie denn hinaus, sobald sie Lust habe, liefe herum, manchmal säße sie stundenlang schweigend auf einer Bank, dann kehre sie zurück. Wir könnten sie im Garten finden. Daraufhin gingen auch wir

Weitere Kostenlose Bücher