Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Erzählung hinzurufen, an jenen Ort, wo wir jenes Gespräch und jene Annäherung erlebt hatten. Seit Jahren hatte ich von dort nicht aufs Meer geschaut. Genauso wie ich nicht auf mich geschaut hatte. Die Straße am Bosporus entlang war still, an den Ufern gab es Spuren eines sehr weit von mir entfernten Lebens. Als ich angekommen war, hielt ich und parkte das Auto. Ich stieg aus und marschierte eine Weile am Strand entlang. Es hieß, das Hotel Tarabya würde abgerissen und neu gebaut. Das bedeutete, man mußte noch ein paar weitere Erinnerungen begraben. Städte lebten und alterten. Mit einer mir schon sehr vertrauten Enttäuschung setzte ich mich auf eine der Bänke. Wer weiß, welche anderen Augenblicke diese Bank miterlebt hatte. Auf welcher Bank hatten wir in jener Nacht gesessen? … Welche Bank war es gewesen? … Das konnte ich nur vermuten. Ich versank in meinen Erinnerungen, sah noch einmal die Angst in den Augen von Şebnem, versuchte ihre Stimme aufs neue zu hören. Da fiel mir der Augenblick ein, als sie mir den Ohrring in die Hand gedrückt hatte. Mein Herzschlag wurde plötzlich schneller. Jener Ohrring … Ich hatte den Ohrring noch. Ich wußte auch, wo ich ihn versteckt hatte. Im Laden in meinem Arbeitstisch gab es eine Schublade, wo ich andere Erinnerungsstücke aufbewahrte … Dort lagen auch alte Bleistifte, kleine Notizen, Telefonnummern, gewisse Kinokarten, Flugbilletts und Zugfahrkarten neben Eintrittskarten für Fußballspiele und alten wertlosen Münzen, die ich allesamt nicht wegzuwerfen über mich gebracht hatte. Alle diese Dinge hatte ich in jene Schublade gestopft. Immer in der Hoffnung, sie eines Tages brauchen zu können … Natürlich waren sie zu gar nichts nütze. Dort lagen sie in der Finsternis. Ich war mir sicher, auch der Ohrring war dort. Die Möglichkeit, daß der Ohrring sich dort befand, hatte meinen Herzschlag beschleunigt. Ich knüpfte meine Hoffnung, Şebnem aufwecken zu können, an ein äußerst ergreifendes Detail … Würde ich Erfolg haben? … Würde mir gelingen, was die anderen trotz aller Bemühungen und guter Absichten nicht erreicht hatten? … Das konnte ich nicht wissen, natürlich nicht. Doch ich würde es versuchen, auf jeden Fall. Vielleicht hatte ich den Ohrring all die Jahre hindurch für eine solche Gelegenheit aufgehoben …
Der Abend brach herein. Zuerst dachte ich, ich würde mich ins Auto setzen, zum Laden fahren und den Ohrring suchen. Doch dann nahm ich davon Abstand. Es fing an zu regnen. Außerdem glaubte ich, für diesen Tag genug gesehen zu haben. Mehr würde ich nicht ertragen. Ich war todmüde. Ich wollte nach Hause und über das Erlebte nachdenken, indem ich mich noch an andere Einzelheiten erinnerte. Ich wollte mich soweit wie möglich erinnern, ausruhen und schlafen und am nächsten Morgen das Abenteuer ausgeruht fortsetzen. Außerdem war das, was ich suchte, nicht allein Şebnem. Ich durfte nicht vergessen, daß ich mich mit einer anderen Hoffnung auf den Weg gemacht hatte. Mal schauen, was ich noch alles sehen und erleben würde. Ich wußte, daß ich in viele Leben mit vielen Fragen eingedrungen war. Es gab derart viele Fragen, auf die ich keine Antworten wußte, ja die ich nicht einmal zu stellen wagte …
Ich erwachte aus einem langen Schlaf
Es war sehr entspannend zu erleben, wie das häusliche Leben seinen mir inzwischen vertrauten Gang ging. Manchmal liebte ich diese Welt der Sicherheit, auch wenn ich wußte, daß sie trügerisch war. Wie konnte ich das Angenehme einer solchen Umgebung jedoch nach einem solchen Tag weiterhin genießen? … Der Abend würde von selbst die Antwort auf diese Frage bringen. Ich war entschlossen, Çela nicht von meinen Erlebnissen zu berichten. Ich war mir nicht sicher, wieweit das von uns gewählte Leben ein solches Bekenntnis zulassen würde. Ich hatte die Grenzen nie ausgetestet, hatte mich bemüht, unsere Ehe stets im Rahmen der von uns für richtig gehaltenen Werte zu führen. Schließlich hatte Çela ebenso ihre Grenzen wie ich. So waren die Jahre hingegangen. Ich war verheiratet mit einer Frau, die ein Leben gewählt hatte, das nicht gegen die Traditionen verstieß, die sich mit dem Vorhandenen zu begnügen verstand und die, anders als ich, mit sich im reinen war, und zwar in höchstem Maße. Mit einer Frau, die sich sowohl mit dem Vorhandenen zu begnügen als auch etwas zu erreichen wußte … Eine Zeitlang hatte sie an der Herstellung von Modeschmuck Gefallen gefunden, sie hatte Kurse besucht
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